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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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sie ist glücklich.
    Und das hat nichts mit dem Brief zu tun. Es ist nun schon einige Tage her, dass sie ihn eingeworfen hat, und das anfänglich kathartische Gefühl wie nach einer Beichte hat sich schnell in eine Vielzahl anderer Emotionen verwandelt – Aufregung, Angst, Übermut, Unsicherheit –, um zuletzt von tiefer Enttäuschung abgelöst zu werden. Als persönlicher Befreiungsschlag taugte der Brief einfach nicht, er war weniger eine Flaschenpost als eine kaputte Flasche auf dem Meeresgrund.
    Von oben dringt das verräterische Knarren einer Fußbodendiele herunter. Carol sieht sich in ihrer Vermutung bestätigt, woher die frostige Atmosphäre im Haus rührt: Sophie lebt. Sie hatte schon immer die Fähigkeit, ihre Befindlichkeit auf ihre Umgebung zu übertragen, nicht nur auf Menschen im selben Raum, sondern sogar durch Wände und geschlossene Türen hindurch. Carol möchte nicht wissen, wie groß ihre Reichweite sein mag. Vielleicht muss eines schönen Tages die gesamte Londoner Bevölkerung feststellen, dass es Sophie ist, die ihre miese Stimmung zu verantworten hat. Sie sieht es vor sich, wie sich eines Nachts ein wütender Mob, mit Mistgabeln und brennenden Fackeln bewaffnet, vor dem Haus zusammenrottet.
    »Ihr wollt Sophie?«, wird sie mit einer Unschuldsmiene fragen. »Aber gern. Augenblick, ich hole sie.«
    Wie aufs Stichwort kommt ihre ranke, schlanke Tochter herein, macht einen großen Bogen um Carol und gesellt sich zu Bob, der am Esstisch sitzt und in ein Puzzle vertieft ist beziehungsweise ratlos davorhockt.
    Sophie sieht ihm ein paar Sekunden über die Schulter, dann ist ihre Geduld am Ende. So viel Blödheit erträgt sie einfach nicht, ohne einzugreifen. Blitzschnell huscht ihre Hand über den Tisch und findet ein fehlendes Teil …
    »Wie machst du das?«, fragt er.
    … noch ein Teil …
    »Wahnsinn!«
    … und noch eins.
    Bob sitzt stumm staunend da, als wäre er bis jetzt davon ausgegangen, dass Puzzles per se unlösbar sind, ausgeklügelte Experimente, die die eigene Frustschwelle auf die Probe stellen.
    Als Sophie ihrer Mutter einen triumphierenden Blick zuwerfen will, verwandelt sich ihr hämisches Grinsen schlagartig in ein Stirnrunzeln.
    »Was guckst du denn so zufrieden?«, fragt sie.
    Carol lächelt sie strahlend an. »Weißt du was? Das wüsste ich selber gerne.«
    »Sie ist doch hier bei mir«, sagt Bob. »Mehr braucht es nicht, um eine Frau glücklich zu machen.«
    Ein Themenwechsel ist dringend angesagt. »Bist du für heute Abend fertig mit Lernen?«, fragt Carol. Mit diesem Gesprächsversuch müsste sie sich eigentlich eine sofortige karmische Belohnung gesichert haben, die Aussicht auf ein besseres und glücklicheres Leben im Jenseits.
    »Vielleicht gehe ich noch weg …« Es ist weniger eine Antwort als eine Verlautbarung. Nachdem Sophie ihren Pflichtteil zur Unterhaltung mit ihrer Mutter beigetragen hat, wendet sie sich wieder Bob zu. »Ich könnte ein bisschen Geld gebrauchen.«
    »Wem sagst du das?«, witzelt er. »Meine Brieftasche liegt in der Küche, neben den Schokoplätzchen.«
    »Neben der leeren Schokoplätzchenpackung«, wirft Carol ein. Vielleicht darf sie bei dem neckischen Geplänkel ja doch noch mitmachen.
    Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, geht Sophie hinaus. Bob ruft ihr nach: »Du hast doch nicht etwa eine Verabredung?«
    »Nein«, blafft Sophie, deren innerer Rottweiler auf Fass! gepolt ist. »Ich treffe mich nur mit ein paar Freundinnen auf einen Kaffee.«
    »Wir haben nichts dagegen, wenn du einen netten Jungen kennenlernst«, sagt Bob, dem heute offenbar der Schalk im Nacken sitzt. »Du darfst dich ruhig verlieben. Dann bist du in zwanzig Jahren vielleicht genauso glücklich und zufrieden wie deine Mutter und ich.«
    Carols Lächeln gefriert. Die Vorstellung, dass Sophie, die ihr ganzes Leben noch vor sich hat, womöglich an einem Mann wie Bob hängenbleibt, deprimiert sie gründlich.

20
    Albert kommt sich vor wie in der guten alten Zeit, als er, frisch aus dem Militärdienst entlassen, auf seinem nagelneuen Postfahrrad durch die Straßen von London gesaust ist. Seit er den Brief bekommen hat, fährt er extra früh zur Arbeit und bleibt so lange da, bis er sich persönlich davon überzeugt hat, dass sämtliche Posteingänge auf unzustellbare Sendungen überprüft worden sind.
    Die magere Ausbeute des heutigen Tages besteht aus drei billigen Umschlägen, die er am liebsten sofort verbrennen würde.
    »Und sonst war wirklich nichts mehr

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