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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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seinem ganzen Leben von sich gegeben hat, fühlt Albert sich gleich noch mieser. Wenn er schon jemandem wie Mickey leidtut, muss er wohl an einem neuen Tiefpunkt angekommen sein.
    »Es ist einfach in letzter Zeit alles ein bisschen viel gewesen«, antwortet er. »Mit der kranken Katze und so.«
    Mit einem verständnisvollen Kopfnicken übergibt Mickey ihm die unzustellbaren Sendungen. »Kein Wunder, dass du die Hosen voll hast. Ist ja auch eine Riesenumstellung.«
    »Danke, Mickey. Das ist nett von dir.« Er legt das Briefbündel unbesehen beiseite. So deprimiert, wie er ist, will er keine neuerliche Enttäuschung riskieren.
    Mickey schreitet mit nachdenklicher Miene in Alberts Kabuff auf und ab. »Wenn man es sich mal genau überlegt, ist es auch nicht viel anders, als einen alten Klepper in die Leimfabrik zu verfrachten. Es ist zwar noch nicht das Ende, aber die Zukunftsaussichten sind alles andere als rosig.« Offenbar fasst er Alberts Entgeisterung als zustimmendes Schweigen auf. »Kein Wunder also, dass du aussiehst wie eine Leiche auf Urlaub. Schließlich ist deine Zeit fast abgelaufen.«
    Als er wieder hinausgegangen ist, kommt Albert der Raum noch stiller und trostloser vor als sonst.
    Plötzlich schießt ihm der Gedanke durch den Kopf, dass die herrenlose Post einen wunderbaren Scheiterhaufen abgeben würde. Das wäre das passende Ende für ihn, wenn die Zeit gekommen ist, in die Große Sortieranlage im Himmel weiterzuziehen: sich mit dem Qualm der brennenden Londoner Irrläufer emportragen zu lassen. Es gibt bestimmt nicht viele Stellen, wo man unbemerkt hunderttausend Briefe und eine Leiche verbrennen kann, aber wenn es überhaupt irgendwo möglich ist, dann in Südlondon. Die meisten Leute in seiner Wohnsiedlung würden sich an dem beißenden Rauch und dem Geruch nach verbranntem Fleisch wahrscheinlich kaum stören.
    Und dann sieht er es.
    Ein kleines Smiley, das unter der heutigen Post hervorlugt, doch diesmal lächelt es nicht, sondern schaut finster drein. Die Papierqualität lässt leider auch zu wünschen übrig, aber der Brief ist von ihr, so viel steht fest.
    Albert setzt sich in seine Ecke und macht den Umschlag vorsichtig auf.
    Er erkennt sofort, dass etwas nicht stimmt. Die Schrift ist ein einziges Gekrakel, als hätte sie den Brief auf einem Kirmeskarussell geschrieben oder während eines besonders heftigen Erdbebens.
    Ich hab Dir was zu sagen!
    Ich scheiß auf Dich. Jawohl, auf DICH !
    Albert hält inne. Das Herz hämmert ihm in der Brust. Am liebsten würde er gar nicht weiterlesen, aber dafür ist es zu spät.
    Ich soll also meine Gefühle rauslassen, ja? Das war doch der Plan, oder? Willst Du wissen, wie ich mich fühle? Okay. Ich möchte das ganze Blatt vollschmieren und Dir in den Rachen stopfen. Ist das ehrlich genug für Dich?
    Weißt Du, was ich denke? Wenn Du diesen Brief wirklich liest, dann nur deswegen, weil Du ein menschliches Wrack bist. Dein Leben ist so leer, dass Du Dir anderer Leute Probleme anhörst, bloß, damit Du Dich nicht mit Deinen eigenen beschäftigen musst. Stimmt’s, oder habe ich recht? Du bist ein trauriges, einsames Würstchen.
    Schäm Dich.
    Ich schreib Dir nie wieder.
    Verstanden?
    NIE WIEDER !
    Albert lässt den Brief sinken und starrt stumm vor sich hin. Es ist totenstill um ihn geworden, nicht nur sein Kabuff, sondern die ganze Welt.
    Als er aufstehen will, um den Brief in den Müll zu werfen, kommt er nicht vom Stuhl hoch. Er ist wie betäubt, als wäre er verschüttet gewesen, als hätte er gerade einen Krieg überlebt – aber nicht in dem Sinne, dass das Schlimmste vorbei ist und es von nun an nur noch besser werden kann. Er fühlt sich wie ein Mann, der heil aus dem Grauen der Schützengräben herausgekommen ist und bei seiner Rückkehr sein Haus zerstört, seine Kinder tot und seine Frau in den Armen des Metzgers vorfindet.
    »Was soll das heißen, krank?«, fragt Darren beunruhigt, auch wenn seine Sorge wahrscheinlich eher sich selbst gilt. Wie soll er es seinen Vorgesetzten erklären, wenn Albert bei der Arbeit tot umfällt?
    »Ich hätte nur gern den Nachmittag frei, muss mich ein bisschen hinlegen.«
    »Kein Problem. Und mach dir um uns keine Sorgen, okay? Wir kommen gut ohne dich zurecht.« Hastig verbessert er sich. »Ich meine, klar wirst du uns fehlen, aber sieh erst mal zu, dass du wieder auf die Beine kommst.«
    »Morgen bin ich wieder da.«
    »Lass dir ruhig Zeit. Bloß nichts überstürzen.«
    Obwohl es ihm guttut, an die frische Luft zu

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