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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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würde sie gern ab und zu mal sehen.«
    »Sie ist siebzehn, ein schwieriges Alter.«
    »Was weißt du denn schon von den Sorgen einer Mutter! Du kannst von Glück sagen, dass Sophie nicht auf dich, sondern auf Bob rauskommt.«
    Carol wendet den Blick ab. Ihre Welt zerläuft ihr zwischen den Fingern. Wie gut sie es kennt, dieses Gefühl, in Gegenwart ihrer Mutter ganz langsam zu verrecken. Am liebsten würde sie aufspringen und weglaufen, aber sie ist dazu verdammt, sitzen zu bleiben und sich noch mehr von ihrem Gift einträufeln zu lassen.
    In die Stille hinein schrillt ihr Handy. Carol wartet kaum das zweite Klingeln ab, da hat sie es schon in der Hand.
    »Helen!«
    »Hättest du Lust, auf ein Tässchen Tee vorbeizukommen?«
    Carol zögert – jetzt oder nie. »Um Gottes willen!«, ruft sie entsetzt. »Und wie geht es dir?«
    »Carol? Was redest du denn da für einen …«
    »Ich komme sofort …«
    »Carol …«
    »Nein, nein, das macht mir doch keine Umstände. Ich bin gerade bei meinen Eltern, die haben bestimmt Verständnis dafür. Nein, nein, keine Bange. Ich bin in … sagen wir, einer halben Stunde bei dir.« Mit ernster Miene beendet sie das Gespräch. »Helen hatte einen Unfall.«
    »Ist es schlimm?«, fragt Deirdre.
    »Sie ist mit dem Messer abgerutscht. Alles ist voll Blut.«
    »Braucht sie dann nicht eher einen Arzt als dich?«
    »Nein, nein, nein … Anscheinend hat die Blutung schon wieder aufgehört, aber sie ist fix und fertig. Und ihre Küche sieht natürlich aus wie ein Schlachtfeld.« Sie schnellt aus ihrem Sessel. »Es war schön, dich zu sehen. Ich grüße Bob und Sophie von dir.«
    Sie läuft zu ihrem Vater und drückt ihm ein Küsschen auf die Wange. »Tschüss, Dad.«
    Er sieht flehend zu ihr hoch, mit einem Blick, der alles bedeuten kann, Panik, Reue, Selbstmitleid, so viele Emotionen, die jetzt zur Situation passen würden, aber sie kann die Welt, in der er lebt, nicht mehr ergründen.
    »Heißt das jetzt, du kommst wirklich?«, fragt Helen ins Handy, als Carol der Siedlung ihrer Eltern den Rücken kehrt.
    »Nein, leider nicht.«
    »War es tatsächlich so schlimm?«
    »Frag lieber nicht.«
    »Warum sagst du ihr nicht einfach die Wahrheit?«
    »Was denn? Ich hasse dich? Ich kann dich nicht ausstehen? Ich glaube kaum, dass das für unserer Verhältnis besonders förderlich wäre.«
    »Genau genommen habt ihr doch überhaupt kein Verhältnis. Du willst das nicht hören, schon klar, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie du jemals mit Sophie ins Reine kommen willst, solange du deiner eigenen Mutter den Tod an den Hals wünschst.«
    Carol antwortet nicht. Sie hat ein zügiges Tempo angeschlagen, will sich nur noch irgendwo verkriechen.
    »Dann gehst du also jetzt nach Hause?«, fragt Helen, um das Gespräch wieder in ein ruhigeres Fahrwasser zu lenken.
    »Nach Hause? Ja, so nennt man das wohl, ein Zuhause. Ich gehe nach Hause und kippe mir einen hinter die Binde.«
    »Kannst du das präzisieren?«, fragt Helen besorgt. »Meinst du ein Glas Wein oder drei Flaschen Wodka?«
    Carol will nichts versprechen, was sie nicht halten kann. »Lass mich, ich muss weiter …«
    »Carol …«
    »Mach dir mal keine Gedanken um mich.«

22
    Albert betrachtet sich im Badezimmerspiegel. Kein besonders erfreulicher Anblick, auch wenn er wirklich nicht eitel ist. Die schlaflosen Nächte und die dauernde Sorge zehren an ihm, er sieht blass und verhärmt aus.
    »Dabei kenne ich doch noch nicht mal ihren Namen!«, sagt er. »Ich weiß fast gar nichts über sie – außer, dass sie in ihrer Jugend ein ziemlich wilder Feger war.« Er stutzt. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, über solche Intimitäten im Bilde zu sein, ohne die grundlegendsten Fakten zu kennen. »Aber heute sieht man das ja alles ein bisschen lockerer.« Im Grunde ist er auch nicht viel besser als sie. Obwohl er sie noch nicht mal als gute Bekannte bezeichnen kann, überlegt er jetzt schon, was er ihr zu Weihnachten schenken soll.
    Prüfend mustert er sein Spiegelbild. Eingefallene Wangen. Dunkle Ringe unter den Augen. Dabei ist das Schlimmste noch nicht mal zu sehen, denn es steckt tief in ihm drin: das Eingeständnis, dass er einsam ist. Nachdem er sich jahrelang um diese schlichte Wahrheit herumgemogelt hat, ist seine Selbsttäuschung wie ein Kartenhaus in sich zusammengekracht. Und alles nur, weil eine Fremde ihm geschrieben hat.
    »Hast du Schiss davor, in Rente zu gehen?«
    Da es wahrscheinlich der einfühlsamste Satz ist, den Mickey Wong in

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