Unbekannt verzogen: Roman
nicht raus. Stattdessen kriege ich panische Angst, dass ich dem anderen mit meiner Ehrlichkeit etwas Fürchterliches antue. Als könnte er dadurch einen Arm oder ein Bein verlieren oder tot umfallen.
Vor ein paar Tagen wollte ich mich mit meiner Teenager-Tochter unterhalten. Ich habe sie gefragt, wie es in der Schule so läuft. Nichts Besonderes also. Sie lässt mich nicht mal ganz ausreden und sagt, es wäre ihr lieber, ich würde sie nicht mehr danach fragen, weil sie keine Lust mehr hätte, mir die komplizierten Themen auseinanderzuklamüsern und mich mit den einfachen zu überfordern. (Oder vielleicht auch andersrum. Ich weiß es nicht mehr.) Aber darum geht’s auch gar nicht. Sie hat nämlich noch etwas gesagt: Dass ich mich blamiere, wenn ich nur den Mund aufmache. Dass ich mich schon seit Jahren lächerlich mache und es für uns beide besser wäre, wenn wir ab jetzt überhaupt nicht mehr miteinander reden.
Kannst Du Dir das vorstellen? Und was mache ich? Gebe natürlich keinen Mucks mehr von mir. Genauso gut hätte ich mich vor ihr auf den Rücken werfen können, damit sie mir auch noch ein paar Fußtritte verpasst. Was mich zu der Frage bringt: Woran liegt es, dass ich immer alles vermurkse, was ich anfasse? Scheiße!
Albert wendet den Blick ab. Vielleicht verschwindet das Wort von selbst, wenn er ein paar Sekunden nicht hinsieht. Er hasst es. Es kommt ihm so unnötig vor.
Ich liebe das Wort Scheiße, Du auch? Vielleicht hätte ich es meiner Tochter an den Kopf knallen sollen. »Red nicht so eine SCHEISSE .«Da wäre ihr garantiert die Spucke weggeblieben. Aber ich schätze mal, das ist mein zweites Problem. Weil ich nie die richtige Antwort auf Lager habe, staut sich in mir womöglich eine absolut unpassende Antwort an, die früher oder später aus mir rausplatzt.
Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn ich wirklich ein bisschen verrückt wäre, dann wüssten die Leute wenigstens, dass sie nicht alles, was ich von mir gebe, für bare Münze nehmen dürfen. Wenn meine Tochter mich beleidigt, weiß sie, dass ich, während ich scheinbar vor ihr zu Kreuze krieche, in Wahrheit meine: »Noch einmal in diesem Ton, und du kannst dir dein Studium selber finanzieren.« Oder nehmen wir mal an, ich rede mit meinem Mann und sage so etwas wie: »Sollen wir uns nicht einen Hund anschaffen?«, dann würde er sofort meinen Geisteszustand berücksichtigen und mich richtig verstehen: »Ich verlasse dich.« (Vielleicht interessiert es Dich, dass der Hund vor ein paar Jahren an Altersschwäche gestorben ist.)
Eigentlich hatte ich nicht vor, Dir das alles zu schreiben. Ich wundere mich selbst, wie einfach es ist, in einem Brief eine Beichte abzulegen. Dabei fällt mir ein, ich sollte Dir vielleicht auch etwas über meine Jugend erzählen. Dass ich immer am falschen Ort nach Liebe gesucht habe (und meistens auf allen vieren). Aber das spare ich mir vielleicht lieber für ein andermal auf. Einen Brief zu verfassen, ist etwas so Grundsolides und Altmodisches, dass ich die Grenzen des Anstands nicht überschreiten will.
Gibt es überhaupt noch jemanden, der Briefe schreibt? Sie kommen mir vor wie ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, wie der Milchmann oder dass man einen Film zum Entwickeln bringt. Wenn man sich das mal vorstellt: eine Woche warten, bis man weiß, dass die ganzen Urlaubsfotos nichts geworden oder verwackelt sind.
Albert hält inne. Er hat seit vierzig Jahren keinen Film mehr zum Entwickeln gebracht. Plötzlich fühlt er sich alt, wie ein Relikt aus der Vergangenheit.
Die Fotos waren von einer Wales-Reise, dem letzten gemeinsamen Urlaub mit seiner Frau, auch wenn das damals noch niemand wissen konnte. Als sie die Bilder endlich abholen konnten, taugten sie nicht viel – Wales sah darauf aus, wie wenn sie, an eine Rakete geschnallt, in geringer Höhe darüber hinweggerauscht wären. Aber es waren trotzdem wertvolle Erinnerungen, an den Spaß und die Verrücktheiten, über denen sie den Regen vergessen hatten. Sie gehören zu den wenigen Dingen, die ihm nach dem Tod seiner Frau von ihr geblieben sind: die verwackelten Bilder, wenn sie vor lauter Lachen die Kamera nicht ruhig halten konnte, die neun unterschiedlichen Aufnahmen von Alberts Füßen, die sie aus Versehen immer dann geschossen hat, wenn sie ihn küsste.
Seltsam, wie die Zeit vergeht, was? Wie manches so weit weg ist, als wäre es nie passiert, und einem andere Dinge noch so nah sind, dass man beinahe das Gefühl hat, man bräuchte nur die
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