Unbekannt verzogen: Roman
kommen und den Brief weggeworfen zu haben, fühlt Albert sich so, als würde er sich mit einer Stichverletzung durch die Straßen schleppen. Obwohl er sich weder vor Schmerzen krümmt noch eine blutige Spur hinterlässt, würde ihn eine erschreckte Reaktion der Vorübergehenden nicht überraschen, ein Schrei vielleicht oder ein vor Entsetzen weit aufgerissener Mund. Aber nichts dergleichen. In den Straßen von Südlondon hat er mit seinem gequälten Gesicht seinen natürlichen Lebensraum gefunden.
Am liebsten möchte er den anderen Brief auch wegwerfen, wenn er nach Hause kommt, aber er wird es nicht übers Herz bringen, das ist ihm jetzt schon klar. Dieser Brief war ihm wichtig, wenn auch nur für kurze Zeit. Er kann ihn nicht einfach vernichten. Schließlich ist er ein Andenken an eine verlorene Zeit der Unschuld, und ist sein Leben nicht ein einziges Mausoleum solcher Erinnerungen?
Als er gedankenverloren aus dem Fahrstuhl tritt, ist Max gerade beim Blumengießen.
Hätte sein Nachbar ihn nicht gesehen, wäre Albert still und leise wieder nach unten gefahren, um sich für ein, zwei Stündchen in den Park zu setzen, aber dafür ist es bereits zu spät.
»Was willst du denn um diese Zeit zu Hause?«, brüllt Max.
Albert reagiert mit würdevollem Schweigen, reizt ihn damit allerdings nur noch mehr.
»Los, spuck’s aus. Es ist helllichter Tag. Entweder du bist krank, oder die haben dich rausgeschmissen.« Als Albert an ihm vorbeigeht, mustert er ihn scharf. »Tatsächlich, bist ein bisschen käsig um die Nase, aber du hast dir ja schon immer schnell was weggeholt. Ein Hänfling halt.«
Albert steckt mit zittrigen Fingern den Schlüssel ins Schloss seiner Wohnungstür.
»Oder hat deine Katze mal wieder Fallschirmspringen geübt?«
Albert stellt sich vor, wie Max sich wohl anhören würde, wenn er sechs Stockwerke tief auf den nackten Beton krachen würde. Ein schöner Gedanke.
»Und dieses schwachsinnige Grinsen. Gib’s zu. Deswegen bist du jetzt schon zu Hause.«
Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, schlüpft Albert hinein, aber Max’ Stimme verfolgt ihn noch durch die geschlossene Tür.
»Die Post hat endlich kapiert, dass du der Dorfdepp bist.«
Albert hält Wort und erscheint am nächsten Morgen wieder zur Arbeit. Er hat nicht gut geschlafen, doch das geht ihm ja nun schon seit einer ganzen Woche so. Wenigstens war sein Kummer diesmal nicht grundlos, sondern berechtigt.
Ohne die gespannte Erwartung der vergangenen Tage verläuft sein Vormittag geruhsamer. Nach und nach versinkt er wieder in seinem Kokon, isoliert und allein, aber geborgen.
Einer der Auszubildenden kommt mit einem Brief hereingerauscht.
»Heute bloß den einen«, posaunt er, jedes Wort von einer Wolke Kaugummiduft begleitet.
Ohne den Brief auch nur anzusehen, will Albert ihn in einender Säcke werfen, aber er wirft daneben, was sonst? Er war noch nie eine Sportskanone. Erst als er hinübergeht, um ihn aufzuheben, sieht er das Smiley.
Darüber gebeugt, zögert er. Will er überhaupt wissen, was drinsteht?
Aber er ist von ihr.
Für ihn.
Er kann nicht anders.
Er hebt ihn auf und wiegt ihn nachdenklich in der Hand. Ob es sich lohnt, ihn zu öffnen? Ob der Inhalt hält, was das Smiley verspricht?
Vorsichtig macht er ihn schließlich auf.
Darin ein einzelner, fast leerer Bogen Papier.
Es tut mir ja SOOOOOO leid. Ich war schlecht drauf. Nächstes Mal erkläre ich Dir alles.
Herzlichst,
C.
P. S. Falls es Dir ein Trost ist: Ich habe einen Brummschädel, als hätte mich die Rache Gottes voll am Kopf getroffen.
23
Carol weiß nicht, ob ihre Entschuldigung irgendwo angekommen ist, aber einen Versuch war’s wert. Die Welt ist so schon hart genug, da müssen nicht noch Fremde gemein zueinander sein.
Sie würde es zwar Helen gegenüber nicht zugeben, doch sie findet immer mehr Gefallen am Briefeschreiben. Auch wenn sich ihre Ergüsse vielleicht nur in irgendeinem staubigen Lagerraum stapeln, hat sie das Gefühl, einen ersten Schritt gemacht zu haben. Es ist ein wohltuender Gedanke, dass sie ihre Sorgen dort zur Ruhe betten kann.
Die Wirkung ist derart aufbauend, dass sie sich auf einmal in einem Schreibwarenladen wiederfindet, die Regale voll mit Briefpapier für jeden Anlass – buntes Papier für die chronisch Fröhlichen, liniertes Papier für Leute, denen ein weißes Blatt Schwindel verursacht, und hauchzartes Luftpostpapier, so dünn, dass es vielleicht auch ohne die Hilfe eines Flugzeugs ans Ziel finden würde.
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