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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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eine Schachtel mit dickem Büttenpapier und lässt ihre Finger darüber gleiten. Solide Wertarbeit, in jeder Hinsicht. Ihre Gedanken sind viel zu alltäglich für dieses edle Papier, aber es ist so schön, und es macht sie schon glücklich, es nur anzufassen.
    Bevor sie es sich anders überlegen kann, schnappt sie sich rasch noch ein Päckchen mit den dazugehörigen Kuverts und läuft zur Kasse. Heute Abend schreibt sie wieder einen Brief, und diesmal weiß sie genau, was sie sagen will.
    Der Privatmediziner ist großartig. Zumindest gilt das für seine schicke, imposante Praxis, aber sein Rat ist der gleiche: Bob soll sich den Hoden entfernen lassen.
    »Ich kann es nicht fassen«, sagt Bob staunend, als hätte ererwartet, allein durch die hohe Arztrechnung auf wundersame Weise geheilt zu werden. »Sie wollen … sie wollen es … diese Woche machen.«
    »Und wie fühlst du dich dabei?«
    »Ich hab gefragt, ob sie den Hoden nicht einfach nur untersuchen und hinterher wieder einpflanzen können.« Er schüttelt den Kopf. Die Antwort war offenbar alles andere als ermutigend. »Dann werde ich wohl den Stier bei den Hörnern packen müssen.«
    Obwohl er noch immer nicht ganz überzeugt klingt, sind seine rührenden Versuche, sich wie ein Erwachsener zu benehmen, so neu für Carol, dass sie trotzdem stolz auf ihn ist.
    Bevor sie weiß, wie ihr geschieht, greift Bob nach ihrer Hand. Es ist kein Annäherungsversuch – dann hätte er sie, wie so manches Mal zuvor, womöglich die Beule in seiner Hose spüren lassen. Heute ist lediglich lächelndes Händchenhalten angesagt.
    Als Sophie mit einem Teller Essen hereinkommt, macht sie ein entsetztes Gesicht, als sie ihre Eltern so traut beieinandersitzen sieht. Augenscheinlich befürchtet sie das Schlimmste – dass sie mitten ins Vorspiel geplatzt ist.
    »Ich bin gar nicht da«, sagt sie und macht auf dem Absatz kehrt.
    »Du kannst ruhig reinkommen«, ruft Carol.
    »Ist schon okay«, antwortet Sophie, die schon um die Ecke verschwunden ist. »Ich kann auch auf meinem Zimmer fernsehen.«
    Bob starrt auf die leere Tür.
    »Was haben wir doch für ein Glück als Eltern«, sagt er. »Ich weiß nicht was, und ich weiß nicht wie, aber irgendwas scheinen wir definitiv richtig gemacht zu haben.«
    Da Carol ihm mit etwas so Banalem wie der Wahrheit nicht den Tag verderben möchte, lächelt sie bloß. Und in diesem unerwarteten Augenblick der Zärtlichkeit wird ihr bewusst, welche Ausmaße das Lügengebäude angenommen hat, das sie umsich herum errichtet haben. Sie führen eine Ehe ohne Liebe, ohne Respekt, und doch verkörpern sie hier und jetzt ein Abbild häuslicher Eintracht, sind sie nur ein glückliches Londoner Ehepaar von vielen.

24
    Sie heißt Connie. Das ist der passende Name für eine unglückliche junge Frau, die in ihrer Jugend etwas leichtlebig war, aber ein gutes Herz hat.
    Sie könnte natürlich auch eine Christine sein, aber das will Albert nicht hoffen. Christine klingt nach einer durchtriebenen, berechnenden Person. Bei einer missratenen Christine wären Hopfen und Malz verloren. Und eine Carol oder Cynthia kann sie auch nicht sein, weil Carols und Cynthias für so etwas viel zu normal sind.
    »Ich meine das nicht abwertend«, sagt er zu Gloria. »Früher hätte sich jeder anständige Mann ein normales, braves Mädchen gewünscht. Zum Durchschnitt zu gehören, war für eine Frau sogar erstrebenswert.«
    Gloria blinzelt nur, ihre Meinung behält sie wie immer für sich.
    »Solche Frauen sind das letzte bisschen Anstand, das dieser Welt noch geblieben ist. Jedenfalls würde man eine Cynthia nie auf allen vieren erwischen, und schon gar nicht mit einem wildfremden Mann.«
    Albert hat sich entschieden: Sie heißt Connie. Die Briefe werden ihr helfen, ihren Seelenfrieden wiederzufinden, bis sie sich eines Tages begegnen. Er wird wohl so etwas wie ein Vater für sie sein. Wenn auch kein richtiger. Er kann sie zum Beispiel nicht übers Knie legen, auch wenn es ihr sicher nicht schaden würde. Eher eine Art Vater, wie fromme Leute ihn haben, aber ohne solchen Ballast wie Himmel und Hölle.
    Wie jeden Abend flackert der Fernseher vor sich hin, nur hat Albert ihm diesmal den Ton abgedreht. Jammerschade, dass er nicht schon vor Jahren auf diese Idee gekommen ist. So kann er sich wenigstens vormachen, dass die Sendungen anspruchsvoll und interessant sind. Er genießt es regelrecht, darüber zurätseln, ob ihm wohl etwas Lohnendes entgeht. Das ist immer noch besser, als die

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