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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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schonen, höchstens weniger atmen.
    »Eine Untersuchung würde ich gern noch machen.« Der Arzt zieht Gummihandschuhe über und streicht einen Zeigefinger gründlich mit Gleitgel ein. »Wann haben Sie zum letzten Mal Ihre Prostata anschauen lassen?«
    »Tja.« In Albert steigt Panik hoch. »Dazu müsste ich erst mal wissen, wo das Ding sitzt.«
    Ein Trost bleibt Albert: Seine erste gründliche Untersuchung seit fünfzig Jahren wird auch die letzte sein. Er darf seinen Lebensabend in der beruhigenden Gewissheit verbringen, dass an ihm nie wieder ein Mensch das verbrechen wird, was dieser Arzt gerade mit ihm gemacht hat.
    Er kann nicht daran denken, ohne blass zu werden, dass er sich vor gerade einmal zwanzig Minuten über einen Schreibtisch beugen und abtasten lassen musste. Ihm ist klar, dass manche Leute so etwas sogar zum Vergnügen machen – und noch ganz andere Sachen, wenn man den Boulevardblättern glauben darf –, aber er hätte es niemals für möglich gehalten, dass man einem solchen Übergriff das Mäntelchen einer »Vorsorgeuntersuchung« umhängt. Wahrscheinlich würde der Nationale Gesundheitsdienst dabei demnächst auch noch Wüstenrennmäuse und Gummispielzeug zum Einsatz bringen.
    Am liebsten würde er weiterarbeiten, um zu sehen, ob ein Brief von Connie gekommen ist, doch Darren hat ihm wie üblich den Rest des Tages frei gegeben.
    Eigentlich sollte er sich, nachdem er gerade von einem Mann befummelt wurde, ein Viertelstündchen in die Kirche setzen – aber da er dabei keinerlei sündige Gedanken hatte, müsste es ein ausgiebiges heißes Wannenbad eigentlich auch tun.
    Noch bevor Albert den Aufzug verlassen hat, wittert er, dass Max beim Blumengießen auf ihn lauern wird. Wie ein Kanarienvogel in einem Kohlebergwerk spürt er seine giftigen Ausdünstungen, die ihm wie eine Wolke Grubengas entgegenschlagen.
    Und tatsächlich, als die Fahrstuhltür aufgeht, steht er vor ihm. Nicht allein diesmal, sondern zusammen mit seiner Frau.
    Max’ Frau hat Ähnlichkeit mit Kim Jong Il; sie zeigt sich ebenfalls kaum in der Öffentlichkeit, und wenn doch, dann nur mit kränklicher Miene und einer verunglückten Dauerwelle.
    Sie steht so reglos in ihrer Wohnungstür, dass sie von weitem wie eine Tote aussieht – eine stocksteife Leiche, die die milde Sonne eines Winternachmittags genießt.
    »Na, du Teilzeitmatrose«, brüllt Max ihm entgegen. »Arbeitest du eigentlich überhaupt nicht mehr?«
    Albert behält lieber für sich, dass er bei einer Vorsorgeuntersuchung war. Max besitzt eine erstaunliche Kombinationsgabe und würde sofort zwei und zwei zusammenzählen.
    »Ich hatte etwas Privates zu erledigen.«
    »Ah, verstehe«, näselt Max mit einem pseudovornehmen Akzent. »Dann waren wir heute nicht im Dienste der Königin tätig?«
    Albert, der das Gefühl hat, dass es der Frau guttun würde, wenn sie wüsste, dass noch andere Menschen ihren Mann hassen, lächelt sie mitfühlend an.
    »Was gibt’s da zu glotzen?«, keucht sie mit brüchiger Stimme.
    Da es ihr offenbar schwerfällt, den Kopf zu drehen, verfolgt sie ihn umso gnadenloser mit den Augen, bis die Pupillen in den Augenwinkeln anschlagen und Albert aus ihrem Blickfeld verschwindet. Bevor es ihr doch noch gelingt, den Kopf hinter ihm her zu recken, hat Albert schon halb seine Wohnungstür aufgeschlossen.
    Sie klappt den Mund auf, doch es kommt nichts heraus.
    Sie versucht es noch einmal.
    »Arschloch«, krächzt sie.
    »Ja, so ist’s richtig«, sagt Max. »Zeig’s ihm.« Er wendet sich Albert zu. »Wenn ich Enkelkinder hätte, würde ich dich nicht in ihre Nähe lassen«, brüllt er.
    »Aber ich mag Kinder«, antwortet Albert, in der Seele getroffen.
    »Hab ich’s nicht gewusst?«, sagt Max zu seiner Frau. »Der Kerl ist ein Perverser.«
    Der Abend nimmt seinen üblichen Lauf. Vor der stummen Flimmerkiste hocken, hin und wieder ein Schwätzchen mit Gloria halten. Doch je später es wird, desto mehr beschäftigen Albert die warnenden Worte des Arztes über seine angegriffene Lunge.
    »So einen Blödsinn hab ich noch nie gehört«, sagt er. Er hätte besser nicht daran gerührt. Kaum hat er den Satz ausgesprochen, hört sich die Prognose noch lebensbedrohlicher an.
    Albert räuspert sich. Ob sich da wohl ein Husten ankündigt?
    »Man könnte fast meinen, ich werde verrückt.«
    Wer weiß? Womöglich stimmt es sogar.

27
    Carol tut es nicht leid, dass sie ihren Namen ins Unbekannte hinausgeschickt hat. Es ist eine optimistische Geste, eine plötzliche

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