Unbekannt verzogen: Roman
grauenvoll. Hört sich an wie ein billiger Backofenreiniger, einer von denen, die überhaupt nicht wirken. Außerdem finde ich, die Y-Namen sind ein bisschen zu kumpelhaft für unsere Zwecke, meinst Du nicht auch? Mit einem Toby oder Harry kann man sicher gut mal ein Bierchen zischen gehen, aber ich würde ihnen kaum meine dunkelsten Geheimnisse anvertrauen wollen. Ich bin nicht katholisch, aber ich glaube, es wäre mir unbehaglich, wenn ich die Beichte bei jemandem ablegen müsste, der Harry heißt. Ist wahrscheinlich ein Tick von mir.
Ich würde Dich gern Richard nennen. Ich möchte diesen Brief an Richard schreiben. Auch wenn Du nicht Richard bist. Ich weiß.
Dieser Name. Carol lässt den Stift sinken. Ihr Herz hämmert.
Im Haus ist alles still, Bob und Sophie schlafen fest. Und sie? Schreibt einen Brief, den nie ein Mensch lesen wird.
»Ist auch besser so, wenn ihn keiner zu sehen bekommt«, murmelt sie. Es reicht, wenn sie das, was sie heute Nacht sagen will, zu Papier bringt. Damit es einmal ausgesprochen ist und sie damit abschließen kann.
Dazu passt es, dass Bob und Sophie schlafen. Das hat irgendwie etwas Unschuldiges: Sie sind hier im Haus, in ihrer Nähe und doch ganz weit weg. Es ist, als kristallisiere sich in diesem einen Moment die Wahrheit über ihrer aller Leben heraus.
Lieber Richard,
ich kann Sophie nicht ausstehen. Und das ist Deine Schuld. Nein, das stimmt nicht. Es ist meine Schuld, dass ich Dich geliebt habe. Aber Deine Schuld war es, dass Du es mir so leicht gemacht hast, Dich zu lieben.
Nicht, dass ich Sophie hasse. Hass wäre ein bisschen übertrieben. Den spare ich mir für später auf, wenn sie älter ist.
Sollte bloß ein Witz sein! Ich glaube nicht, dass Eltern das Recht haben, ihre Kinder zu hassen, ganz egal, aus welchem Grund. Und ich schon gar nicht (die ich hier sitze und bereitwillig zugebe, dass ich meine Tochter nicht besonders gut leiden kann. Was aber möglicherweise letzten Endes auf dasselbe rausläuft, oder nicht?)
Dass ich sie ablehne, liegt wohl an den Entscheidungen, die ich getroffen habe. An den Dingen, die ich getan – oder eben nicht getan – habe, um ihr eine Mutter zu sein. Natürlich dürfte ich ihr meine Entscheidung, Bob zu heiraten, nicht vorwerfen, aber es fällt mir schwer, schließlich war sie der einzige Grund dafür.
Zu ihrer Verteidigung muss ich zugeben, dass ich mir tatsächlich eingebildet habe, verliebt zu sein. Was nicht heißen soll, dass ich damals überhaupt eine Vorstellung von Liebe hatte. Natürlich verliebt es sich leicht, wenn man es schon für das Höchste an Intimität hält, dass sich der Kerl nach dem Sex nicht sofort aus dem Staub macht. Im Nachhinein glaube ich fast, dass ich überhaupt nicht verliebt war, sondern bloß die Hoffnung aufgegeben hatte.
Dabei ist Bob kein übler Kerl, wirklich nicht. Wahrscheinlich ist er sogar der perfekte Mann, bloß eben nicht für mich, sondern für eine andere. (Ob ich diese Frau kennenlernen möchte, steht auf einem anderen Blatt, aber ich wünsche den beiden alles Gute.) Und soll ich Dir was sagen? Ich glaube tatsächlich, sie könnten zusammen ihrGlück finden. Und zwar wahres Glück, kein vorgespiegeltes, wie das, was ich ihm seit Jahren serviere. Dass er es für echt hält, macht die Sache wohl auch nicht besser.
Und die ganze Zeit habe ich mir eingeredet, es wäre edelmütig von mir, wegen Sophie bei ihm zu bleiben. Aber jetzt … jetzt weiß ich nur noch eines ganz genau: dass es zu spät ist, noch einmal von vorn anzufangen. Auch wenn ich ihn verlasse (man beachte – ich schreibe wenn, nicht falls), die verlorenen Jahre gibt mir keiner wieder zurück.
»Carol?« Bob kommt im Schlafanzug ins Wohnzimmer getappt, die Haare verschwitzt und zerwühlt, die Augen gegen das helle Licht zusammengekniffen. »Was machst du da?«
Vor Schreck knipst Carol die Lampe aus, sodass es auf einen Schlag stockfinster ist.
»Was soll denn …?«
»Komm lieber nicht ins Helle. Sonst kannst du nie wieder einschlafen.«
»Aber jetzt sehe ich dich ja gar nicht mehr.«
»Du kennst mich doch schon.«
»Warum bist du nicht im Bett?«, fragt Bob mit verschlafener Stimme.
»Ich schreibe einen Brief.«
»Aber du schreibst doch nie Briefe. Heutzutage schreibt keiner mehr Briefe.«
»Er ist an eine alte Freundin. Aus dem Büro.«
»Kannst du ihr keine E-Mail schicken?«
»Nein, sie lebt jetzt … auf einer Farm. In Australien. Züchtet Schafe. Da haben sie nur Funkgeräte.« Das ist als Erklärung
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