Unbekannt verzogen: Roman
Bob es ihr ab. »Entschuldige«, sagt er. »Ich höre mich bestimmt wie der letzte Vollidiot an.«
»Denk dir nichts dabei«, antwortet sie mit einem entwaffnenden Lächeln. »Daran habe ich mich längst gewöhnt.«
Heute Abend herrscht bei ihnen zu Hause eine noch angespanntere Atmosphäre als sonst – ohne Bob kommt Carol sich vor wie in einer Falle, als hätte Sophie überall Stolperdrähte gespannt oder Haftminen angebracht.
»Ich verstehe überhaupt nicht, was sie hier will«, sagt Carol am Telefon zu Helen. »Sie glaubt, er sei auf einer Geschäftsreise. Ich an ihrer Stelle würde die Nacht durchfeiern.«
»Und mit einem wildfremden Kerl im Bett landen.«
»Helen!«
»Ist doch wahr. In ihrem Alter warst du nicht gerade eine Heilige. Sei lieber froh, dass sie mit beiden Beinen fest auf der Erde steht.«
»So fest, dass sie schon Wurzeln geschlagen hat.«
»Carol, deine Tochter sitzt am Schreibtisch und lernt …«
»Von Lernen hab ich nichts gesagt. Bloß davon, dass man keinen Mucks von ihr hört. Als ich in ihrem Alter war, hätte das bedeutet, dass ich tot bin, aber bei Sophie … Meinst du, es hat mit ihrer Intelligenz zu tun? Dass sie immer so leise ist?«
»Auf jeden Fall schadet es nicht.«
»Ach nein? Kann man Satanismus etwa nicht im Stillen praktizieren? Womöglich ist sie gerade dabei, Pan herbeizubeschwören. Oder sie hängt vor der Webcam und zeigt irgendeinem Kerl in Belgien ihre Titten.«
»Du kannst doch mal nach ihr sehen. Vielleicht gelingt es dir ja, das Eis zu brechen.«
»Helen, wenn das Eis bricht, fällt man ins Wasser. Entweder man ertrinkt, oder man stirbt an Unterkühlung.«
»Das ist aber keine besonders positive Einstellung für eine Mutter.«
»Ach nein? Willst du mir etwa Tipps geben? Das ist doch genau einer der Gründe, warum wir uns so gut verstehen – weil wir beide als Mütter nichts taugen.« Langes Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Entschuldige, das ist mir irgendwie falsch rausgerutscht.«
»Sag bloß, das sollte eine launige Bemerkung sein? ›Helen, du bist eine lausige Mutter, und deine Tochter hasst dich.‹«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»Aber es stimmt doch, nicht wahr? Sie hasst mich wirklich.«
Carol würde sie gern trösten, dass es mit der Zeit nur besser werden kann, aber vermutlich wäre das sowieso gelogen.
»Wenigstens scheinst du dich wieder ein bisschen berappelt zu haben«, sagt Helen. »Hast du den Brief geschrieben?«
»Nein.« Es klingt ihr selbst defensiv und verlogen in den Ohren, aber zum Glück wird Helen nicht stutzig.
»Irgendwie hast du dich trotzdem verändert. Das kann ich spüren.«
»Vielleicht, weil ich mich endlich dazu durchgerungen habe, mit Bob Schluss zu machen.«
»Willst du es immer noch durchziehen?«
»Wieso nicht? Meinst du etwa, ein fehlender Hoden kann unsere Ehe noch retten?«
»Du hast mich schon richtig verstanden.«
»Morgen wird er entlassen. Dann wissen wir mehr.«
»Und wenn es tatsächlich bösartig ist?«
»Sprach die ewige Optimistin.«
» Realistin . Ich glaube kaum, dass die Ärzte nur aus Jux und Tollerei einen Hoden amputieren.«
Carol lässt sich Zeit mit ihrer Antwort – sie sieht sich schon im Flieger nach Athen sitzen, spürt den Schub der Triebwerke, als die Maschine über die Startbahn rast, abhebt und sie durch die Wolken an einen Ort bringt, wo immer die Sonne scheint.
»Nein«, sagt sie schließlich. »Bob wird wieder gesund.«
28
Am Tag nach der betriebsärztlichen Untersuchung ist Albert pünktlich wieder in seinem Kabuff, während Carols Brief schon auf dem Weg zu ihm ist.
Kurz nach Albert trifft er in der Sortierstelle ein, um ihm nicht nur mit Worten, sondern auch mit einem Namen den Tag zu versüßen.
Wenn Albert wüsste, wie nah der Brief ihm schon ist … Doch er kann nicht ahnen, dass er bereits Schritt für Schritt durch das System geschleust wird und unaufhaltsam auf ihn zukommt.
Erst als Darren ihm einen Besuch abstattet, kündigt sich an, dass es kein Tag wie jeder andere sein wird.
»Wir misten aus«, verkündet Darren. »Was alt ist, muss weg.« Als er Alberts erschrockenes Gesicht sieht, rudert er schnell zurück. »Die alten Sendungen, meine ich.« Er deutet auf die fünf Säcke, die an der Wand lehnen. »Hast du die durchgesehen? Können die mit?«
»Ja, die sind für den Müll.«
»Albert, wir schmeißen keine Post auf den Müll. Wir entsorgen sie. Auf eine moralisch einwandfreie, umweltschonende und den Steuerzahler nicht belastende Art
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