Unbekannt verzogen: Roman
Verrücktheit, die ihr das Gefühl gibt, noch lebendig zu sein. Schlimmstenfalls meldet sich ein verwirrter, verlegener Briefträger – und dann kann sie immer noch alles abstreiten. Aber wenigstens hätte sie dann die Gewissheit, dass ihre Briefe gelesen werden.
In den ersten ein, zwei Tagen ist sie noch ein wenig nervös deswegen, aber nach und nach verlieren sich ihre Hoffnungen und Ängste. Je länger sie darüber nachdenkt, desto mehr kommt es ihr so vor, als sei das Briefeschreiben tatsächlich eine Religion – eine sinnlose Übung, die nur so lange Trost spendet, wie man sie nicht hinterfragt.
Dass sie nicht in ein tiefes Loch fällt, hat sie auch Bobs Hodengeschwulst zu verdanken. Der Eingriff soll am Ende der Woche vorgenommen werden, weshalb sie wieder einmal in der Rolle der treu sorgenden Ehefrau gefragt ist.
Der angenehm unaufdringliche, dezente Charme des Gebäudes würde nie vermuten lassen, welche Dramen sich hinter den Klinikmauern tatsächlich abspielen. Männer und Frauen kämpfen um ihr Leben, kommen unters Messer, sterben wohl auch, aber wenn man das Krankenhaus von außen sieht, fühlt man sich eher an ein Hotel erinnert. Carol, die noch auf dem Parkplatz im Auto sitzt, wäre nicht sonderlich überrascht, wenn ihr gleich jemand eine Piña Colada und eine Luftmatratze bringen würde.
Das unwirkliche Gefühl will auch drinnen nicht weichen. Carol ist noch nicht einmal bis zum Aufnahmeschalter gekommen, als sie von einer Krankenschwester angesprochen wird, deren Auftreten dem eines dienstbaren Geistes oder einer wohlgenährten Sklavin entspricht.
»Mrs. Cooper?«, sagt sie mit einem warmen Lächeln.
Woher will die Frau wissen, wen sie vor sich hat? Ist Bob heute der einzige Patient, oder sieht Carol einfach nur so aus wie die Art von Frau, die mit seiner Art von Mann verheiratet ist?
»Ihr Mann hat es gut überstanden«, fährt die Schwester fort. »Es gab keinerlei Komplikationen.«
Er hat doch bloß einen Hoden verloren, denkt Carol. Das hätte er mit einem Teppichmesser und einer Rolle Heftpflaster auch noch selber hingekriegt.
»… wurde unter Vollnarkose vorgenommen«, erklärt die Frau. »Aber er ist schon im Aufwachraum.«
Sie gehen durch stille, menschenleere Gänge.
»Wo sind denn alle?«, fragt Carol.
»Unsere Maxime lautet Klasse statt Masse .«
Wahrscheinlich sind die anderen Patienten dem Ärztepfusch zum Opfer gefallen, und sie will es bloß nicht so deutlich sagen, denkt Carol. Vielleicht ist die Schwester deshalb so froh, dass Bob seinen Routineeingriff überlebt hat. »Normalerweise sterben sie wie die Fliegen«, kann Carol sie beinahe sagen hören. »Aber dafür haben wir in allen Besucherbereichen frische Blumen stehen.«
Die Schwester bleibt stehen. »Er ist vielleicht noch ein bisschen schläfrig, doch ansonsten geht es ihm gut.«
Leise öffnet sie eine Tür, lässt Carol hindurchtreten und zieht sie genauso leise wieder ins Schloss.
Bob schlummert friedlich. Er wirkt kleiner als vorher, als hätte er mehr als nur einen Hoden verloren. Es ist schon eine Ironie des Schicksals: Je weniger an ihm dran ist, desto mehr wächst er Carol ans Herz.
Als sie sich ans Bett setzt, schlägt er die Augen auf.
»Hallo, du Schlafmütze.«
»Oh, hallo. Bist du schon lange da?«
»Eben erst gekommen.« Sie weiß nicht, was sie sagen soll. »Soll ich dir einen blasen?«
»Das ist ja mal ein Angebot.«
»Gilt aber leider nur für heute.«
»Wenn ich bloß an meine Eier denke, tun sie schon weh. Tut es schon weh, meine ich natürlich.«
»Das war dann wohl ein Nein.«
»Du kannst dir was zu trinken bestellen, wenn du möchtest. Hier gibt es sogar eine Weinkarte, unglaublich, was?«
»Kein Wunder, dass du müde bist. Sollen wir das den Leuten erzählen? Du spazierst zufällig in diesen Nobelschuppen rein, weil du denkst, es ist eine Bar. Und als du wieder aufwachst, liegst du mit einem Hoden weniger im Krankenbett.«
Bob ist nicht nach Scherzen zumute.
»Ob du es glaubst oder nicht, Carol, ich wollte es nicht an die große Glocke hängen. Hast du es Helen gesagt?«
Sie zögert kurz. »Nur, dass es dir nicht gut geht.« Offenbar muss sie noch etwas nachlegen. »Helen ist eine Teenagermutter am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sie hat genug eigene Probleme.«
Der letzte Satz kommt ihr so überzeugend über die Lippen, dass auch ein unbeteiligter Passant überzeugt gewesen wäre, Helen sei eine Frau, die die Last des Lebens kaum noch stemmen kann.
Auf jeden Fall kauft
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