Unbekannt verzogen: Roman
und Weise.«
»Und das heißt?«
»Wir verkaufen die Briefe an ein Recyclingunternehmen. Sie werden eingestampft und zu Klorollen oder Bierdeckeln verarbeitet.« Zwei Auszubildende fangen an, die Säcke nach draußen zu schaffen. »So ist’s richtig, Jungs. Zack, zack.«
Seine Augen leuchten, als wäre er ein Herrscher, der es genießt, die Lakaien nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.
»Und was soll ich so lange machen?«, fragt Albert.
»Dasselbe wie sonst auch, Albert. Immer schön am Ball bleiben.« Er dreht sich um und marschiert hinter den Auszubildenden hinaus, eine wirbelnde Spur aus Staubkringeln hinter sich her schleppend.
»Dasselbe wie sonst auch?«, murmelt Albert. »Na gut, dann mache ich mir jetzt erst mal einen Tee.«
Kaum hat er den Raum verlassen, treffen die unzustellbaren Sendungen des Tages ein, darunter auch Carols cremefarbenes Kuvert.
Doch weil Albert nicht da ist, bestimmt einer der jungen Männer, was mit den Briefen zu geschehen hat.
»Her damit«, sagt er und hält einen Sack auf. »Das kommt alles weg.«
Wenn Albert jetzt zurückkäme, könnte er Carols Brief vielleicht noch sehen, das Smiley, das aus dem Dunkel hervorlugt.
Der Auszubildende bindet den Sack zu und schleift ihn hinaus. So verschwindet Carols Brief aus dieser Welt, während Albert nichtsahnend seinen Tee ziehen lässt.
29
Bob nach Hause zu holen ist nur das Vorspiel. Seinen eigentlichen Höhepunkt findet das Drama erst im Laufe des Nachmittags, mit dem Anruf seines Arztes. Erst wenn Bobs Hoden in irgendeinem Hinterzimmerlabor wie ein Serrano-Schinken in Scheibchen geschnitten worden ist, auf dass er seine Geheimnisse preisgebe, werden sie Gewissheit haben.
Bob versucht, sich von der Warterei nicht unterkriegen zu lassen. »Wollen wir heute Abend in den Pub gehen, was meinst du?«
»Ich finde, du solltest dich noch schonen, Bob.«
»Aber wir müssen doch feiern!« In seiner Stimme schwingt ein verzweifelter Unterton mit, und die Angst steht ihm in die Augen geschrieben.
Carol spielt mit. »Warum eigentlich nicht?«, sagt sie. »Machen wir mal wieder einen drauf.«
»Wir fragen Tony und Mandy, ob sie mitkommen. Wär’ das was?«
»Na klar, je mehr, desto besser.«
Mit zittrigen Händen greift er zum Telefon.
»Tony!«, dröhnt er in einem jovialen Bühnenton. »Ja, logo, Kumpel, alles im Lack. Hör mal, wir wollen uns heute Abend im Pub die Kante geben …« Sogar seine Körpersprache hat sich verändert; er ist so zappelig und aufgedreht wie ein Kind, das zu viel Orangenlimo getrunken hat. »Echt? Super Idee. Wir sind dabei!«
Super Idee. Carol schwant nichts Gutes. Dafür kennt sie Tony und Mandy schon zu lange.
»Klaro, wir stehen um sieben bei euch auf der Matte! Spitze!«
Kaum hat er aufgelegt, geht er ein wie eine Primel. Alle Ängste und Sorgen sind auf einen Schlag wieder da.
»Sie haben uns eingeladen«, sagte er, während er sich aufsSofa sinken lässt. »Tony will grillen. Ein letztes Mal, bevor der Sommer zu Ende ist.«
»Wir haben fast November.«
»Aber es ist ziemlich warm. Jedenfalls für diese Jahreszeit.«
»Dafür, dass wir Winter haben?«
»Das nennt man britischen Optimismus.« Anscheinend unterstützt er Tonys patriotischen Drang, an einem kalten, regnerischen Abend im Freien zu stehen und angekohlte Speisen zu vertilgen. »Sophie kann auch mitkommen.«
»Sie ist beim Hockeytraining. Außerdem würde sie lieber Insektenvertilgungsmittel trinken, als sich mit uns vieren abzugeben.«
»Aber vielleicht wird es ja ein richtig netter Abend.«
Das Telefon klingelt, und jeder Gedanke an nette oder weniger nette Abende ist wie weggeblasen.
30
Albert hat sich immer vorgestellt, dass es ein ganz besonderes Ereignis sein würde, seine Seniorenkarte für den Bus zu bekommen. Im Laufe der Jahre hat er oft genug erlebt, wie Leute diesem Tag entgegenfiebern, als bestünde der Sinn des Lebens darin, alt zu werden und umsonst Bus fahren zu dürfen. Doch als die Seniorenkarte heute endlich im Briefkasten liegt, wird ihm das Herz schwer.
Dass er schon seit Tagen nichts mehr von Connie gehört hat, macht es nur noch schlimmer. Ohne Post von ihr kommt ihm alles grauer und fader vor. Außerdem versetzt ihm die Seniorenkarte einen Stich: Jetzt ist er einer von den Alten. Noch bevor er in den Ruhestand geschickt wird, gehört er nun zu der Bevölkerungsgruppe, die so wenig mit ihrer Zeit anzufangen weiß, dass man sie gratis mit dem Bus durch die Gegend gondeln lässt, damit sie irgendwie
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