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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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wohl immer noch ein wenig dürftig. »Ich habe gerade erfahren, dass sie schwanger ist.«
    »Was? Um drei Uhr morgens?«
    »Nein, nicht jetzt … heute. Beziehungsweise gestern. Und dann konnte ich nicht einschlafen. Hab ich dich geweckt?«
    »Indem du unten im Wohnzimmer sitzt und leise vor dichhin schreibst? Nein …« Er gähnt. »Aber das Bett war so leer ohne dich.«
    »Leg dich wieder hin. Ich komme bald nach.«
    »Warum nicht gleich?«
    »Weil es keinen Sinn hätte. Ich kann nicht einschlafen.«
    »Wie willst du denn im Dunkeln schreiben?«
    »Ich mache das Licht doch wieder an.«
    »Kein Wunder, dass du nicht einschlafen kannst.«
    Vielleicht trollt er sich ja wieder, wenn sie ihn einmal fest knuddelt. Als Carol zu ihm will, um ihn in den Arm zu nehmen, läuft sie gegen einen Stuhl.
    »Scheiße!«, schimpft sie.
    »Was hast du?«
    »Nichts passiert.« Ihr Bein tut weh. »Nicht der Rede wert.«
    Ein leises Knarren im ersten Stock verrät, dass Sophie sich im Bett auf die andere Seite wälzt.
    Als es wieder still geworden ist, streckt Carol die Arme ins Dunkel und schlingt sie um Bobs füllige Mitte. »Leg dich ruhig wieder hin. Ich bleib nicht mehr lange.«
    »Versprochen?«
    »Versprochen.«
    Er geht wieder nach oben, seine Schritte verklingen, nur ein Dielenbrett knarrt noch einmal leise.
    Als sie die Lampe wieder einschaltet, ist ihr das Licht zu hell, viel zu grell für die nächtliche Stunde. Sie hält sich die Hand über die Augen und schreibt weiter.
    Wo war ich stehengeblieben? Ich weiß gar nicht mehr, was ich eigentlich schreiben wollte. Tja, so ergeht es einer Frau, die zu wenige Freunde hat. Nehmen wir nur Helen, die Gute, Du würdest sie kaum wiedererkennen. Ihre Scheidung und die Verantwortung für ihre Tochter haben sie sehr mitgenommen. Dass sie überhaupt ihren Alltag bewältigen kann, grenzt an ein Wunder, so zerbrechlich, wie sie ist. Sie ist immer noch meine beste Freundin, aber ich bräuchte ein Yin als Gegengewicht für ihr Yang, wenn Du verstehst, was ich meine. Auf jeden Fall wünsche ich mir jemanden, der mehr von Tee versteht.
    Bevor ich noch komplett den Verstand verliere und sabbernd durch die Straßen von Croydon irre, möchte ich eins loswerden: Ich übernehme für meine Entscheidungen die volle Verantwortung, auch für die allerschlechtesten. Es war meine Entscheidung, bei Bob zu bleiben. Meine Entscheidung, Sophie zuliebe meine eigenen Bedürfnisse hintanzustellen. Vielleicht war das auch nur ein guter Vorwand, um mich nicht mit Dingen beschäftigen zu müssen, die mir Angst machen. Ich weiß es nicht. Aber das spielt auch jetzt keine Rolle mehr, nicht wahr?
    Früher hab ich mir gern eingeredet, dass ich für meine Anständigkeit eines Tages belohnt werde: Wenn ich bei Bob ausharre, profitiert später mein Verhältnis zu Sophie davon. Heute sehe ich, dass das ein Trugschluss war. Das Einzige, was Eltern ihrem Kind mit auf den Weg geben können, ist Glück, alles andere ist nur Beiwerk. Und wenn man ihnen das Glück nicht vorleben kann, kann man es ihnen auch nicht mitgeben.
    Scheiße gelaufen, was? Es wäre besser gewesen, ich hätte Bob sitzenlassen und wäre mit Dir zusammengezogen. Doch das kann ich erst heute erkennen, fünfzehn Jahre klüger. Und jetzt bist du nicht mehr da, und es ist zu spät.
    Ich würde zu gern wissen, wie Du Sophie findest. Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch, der sie sich anders wünscht. Schließlich ist sie intelligent und nett – zu jedem, außer zu mir. Ich vermute, sie ist mir einfach nicht »jung« genug. Es wäre schön, wenn sie manchmal vergessen könnte, dass sie eine Streberin ist, und ein bisschen über die Stränge schlagen würde. Mich lässt das böse Gefühl nicht los, dass die Jugendsünden, die sie jetzt nicht begeht, sie später einholen werden. Ich will nicht erleben müssen, dass sie sich mit Mitte dreißig plötzlich fragt, wieso ihr Leben den Bach runtergegangen ist. Dann wäre wirklich alles umsonst gewesen.
    So, und jetzt ab ins Bett mit mir.
    Kuss,
    Carol
    Sie starrt auf den Brief. Es ist seit Jahren das erste Mal, dass sie sich ernsthaft an ihn wendet. Wenn sie wüsste, wie sie ihn erreichen könnte, würde sie sich sofort durch die dunklen Straßen auf den Weg machen.
    Durch das Schreiben sind die Erinnerungen lebendiger geworden, und sie fühlt sich ihm wieder ganz nah, auch wenn sie nicht weiß, wo er ist.
    Vielleicht liegt darin die Macht des Glaubens: dass er noch das Irrationalste, Verrückteste und

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