Unbekannt verzogen: Roman
Unvernünftigste einen Augenblick lang möglich erscheinen lässt.
Dieser Gedanke ist so unwiderstehlich, dass sie noch einmal zum Stift greift.
P. S. Ich weiß, du wirst diesen Brief nie bekommen, Richard, aber falls es doch irgendeine Möglichkeit gibt, melde Dich bitte.
Sie spürt dem letzten Satz in Gedanken nach, träumt davon, dass Richard ihn liest. Sie träumt, seine Stimme wieder zu hören. Sein Gesicht zu streicheln. Eine zweite Chance zu bekommen.
Von ihren Gefühlen überwältigt, drückt sie einen Kuss unten auf die Seite. Hastig stopft sie das Papier in einen Umschlag, damit sie es sich nicht noch einmal anders überlegen kann.
26
Albert muss zum Betriebsarzt. Was das soll, ist ihm schleierhaft. Dass er langsam alt wird und sein Körper nicht mehr so will wie früher, weiß er selber, dafür braucht er keinen Arzt. Cholesterinspiegel und Blutdruck sind ihm egal. Nachdem er sich fünfundsechzig Jahre nicht darum gekümmert hat, braucht er jetzt auch nicht mehr damit anzufangen.
»Ich nehme Ihnen jetzt Blut ab«, sagt der Arzt. »Das kann ein bisschen pieksen.«
Mit wenig Feingefühl rammt er Albert die Nadel in den Arm.
»Aua.«
»‘tschuldigung. Blutabnehmen war noch nie meine Stärke.« Er schließt ein großes Röhrchen an die Kanüle an und sieht zu, wie es sich mit Blut füllt.
»Soll das ganz voll werden?«, fragt Albert. Für einen einfachen Test scheint es ihm doch etwas viel Blut.
»Warum nicht? Wenn schon, denn schon.«
»Ich weiß aber nicht, ob ich so viel entbehren kann.«
»Solange Ihnen nicht schwindelig wird und Sie mir nicht ohnmächtig vom Stuhl kippen, ist alles im grünen Bereich.« Er grinst. »Sie überleben das schon.« Er klopft an das Röhrchen. »Wenn Sie die Hand ballen … so … ja, genau … und jetzt pumpen … so …«
Im Takt von Alberts Pulsschlag schießt das Blut in das Röhrchen, ein purpurroter Strahl.
»Normalerweise nimmt ja meine Assistentin das Blut ab«, sagt der Arzt. »Aber sie ist krankgeschrieben.«
Albert weiß nicht recht, was er darauf sagen soll. »Arzt, heile dich selbst«, kommt ihm in den Sinn, aber der Spruch ist viel zu abgedroschen. Er entscheidet sich für eine etwas entgegenkommendere Antwort.
»Ja, momentan macht die Grippe die Runde«, sagt er. »Von meinen Kollegen hat es auch schon ein paar erwischt.«
»Aber sie hat keine Grippe. Sie hat Syphilis.« Zum ersten Mal an diesem Morgen wirkt er richtiggehend froh. »Das ist ziemlich spannend, ich hatte nämlich noch nie einen Fall von Syphilis.«
Als genug Blut geflossen ist, reißt er Albert die Nadel aus dem Arm und kramt in seinem Zubehör, während Albert sich vollblutet.
»So, jetzt aber.« Er kippt Albert einen Schwall Desinfektionsmittel auf den Arm. »Das kann jetzt ein bisschen brennen.«
»Fast gar nicht«, knurrt Albert mit zusammengebissenen Zähnen.
Der Arzt reicht ihm einen Wattebausch. »Drücken Sie das fünf bis zehn Minuten auf den Einstich, dann hört die Blutung auf.«
Er flüchtet sich hinter seinen Schreibtisch, erleichtert, zu Albert auf Distanz gehen zu können.
»So«, sagt er. »Dann gehen Sie also demnächst in Rente?«
»Ende des Monats.«
»Ist Ihnen bewusst, dass die Sterblichkeit bei Männern Ihres Alters in den ersten ein, zwei Jahren nach dem Übergang in den Ruhestand rapide steigt?« Er klingt beinahe hoffnungsfroh, als wäre ein früher Tod eines der wenigen interessanten Dinge, die ihn mit seinem Beruf versöhnen. »Jede Menge Fälle von Krebs, Schlaganfällen, Herzinfarkten und so weiter.«
»Ich denke, ich bin noch ziemlich gut in Schuss.«
Statt ihm beizupflichten, blättert der Arzt abwesend in seinen Unterlagen.
»Ihre Lunge macht mir ein bisschen Sorge«, sagt er schließlich. »Sind Sie Raucher?«
»Nein.«
»Hatten Sie mal Tuberkulose?«
»Nein. Stimmt denn etwas nicht mit meiner Lunge?«
»Kann man so nicht sagen. Auf dem Röntgenbild war jedenfalls nichts zu erkennen. Seien Sie froh. Wenn man darauf erst etwas sehen kann, ist es tödlich«, antwortet er fast genüsslich. »Bei Ihnen scheint aber so weit alles in Ordnung zu sein. Nur, als ich Sie abgehorcht habe, klang Ihre Lunge irgendwie … wie soll ich sagen? … irgendwie angegriffen. Ich würde Ihnen raten, sie nicht zu überanstrengen und sie gelegentlich zu schonen.«
»Meine Lunge?«
»Ja.«
Albert weiß nicht, wie er sich das vorzustellen hat. Soll er sie ab und zu rausnehmen und gut durchspülen? Da er nun mal kein Raucher ist, kann er, um sie zu
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