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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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wildfremden Menschen tatsächlich ihre intimsten Gedanken anvertrauen? Aber da sie ihn ja nun mal nicht kennt, kann es auch nicht schaden. Sie schreibt weiter.
    Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre die Frau eines großen, dunklen Italieners. Er ist natürlich wahnsinnig sexy und ungeheuer männlich gebaut – wenn Du verstehst, was ich meine. Und er ist ein leidenschaftlicher, heißblütiger Kerl. Wenn wir uns streiten, muss er sich beherrschen, mich nicht zu schlagen, das sehe ich in seinen Augen. Was würden denn dann seine mama und der Dorfpriester von ihm denken? Also haut er alle möglichen Sachen kurz und klein. Als Erstes müssen die gerahmten Fotos dran glauben und dann das Geschirr, ein Teller nach dem anderen, während ich ihn beschimpfe, seine Klamotten anzünde und brennend auf die Straße werfe (finanziell gesehen, ist das alles nicht sehr praktisch, das ist mir schon klar, aber wir können ja einfach annehmen, dass wir genug Geld haben, um uns immer wieder etwas Neues zu kaufen.) Und wenn das ganze Dorf vor unserem Haus zusammengelaufen ist, weil es sich den Tumult nicht entgehen lassen will, und wenn wir uns mit Geschirrzerschlagen und Geschrei völlig verausgabt haben, fallen wir wie die Tiere übereinander her, wo wir gehen und stehen, und wir können erst wieder aufhören, wenn wir schweißgebadet sind und uns jeder Muskel weh tut.
    Ich glaube, jetzt habe ich zu viel ausgeplaudert.
    Bis bald,
    C.
    Albert lässt den Brief sinken, das Gesicht eine Spur blasser als zuvor.
    »Wenn sie schon so mit einem Fremden spricht, wie redet sie dann wohl mit Leuten, die sie kennt?« Er wirft einen Blick auf Gloria; es ist ihm peinlich, dass er den Brief in ihrer Gegenwart gelesen hat. »Vielleicht ist es besser, dass ich ihre Adresse nicht habe. Ich wüsste wirklich nicht, wie ich auf so etwas antworten sollte.«
    Er steht auf und legt den Brief behutsam in die Plätzchendose, mit dem Smiley nach oben.
    »Andererseits müsste ich ja nicht unbedingt darauf eingehen. Es würde reichen, wenn ich etwas über ihren krankenMann schreibe. Das hört man ja nun wirklich nicht gern, dass es ihm nicht gut geht.«
    Sein Körper strafft sich, als wäre eine frische Brise in ihn gefahren.
    »Sicher, ich kann ihr keinen Brief schicken, aber das heißt noch lange nicht, dass ich ihr nicht antworten kann. Im Grunde tut es nichts zur Sache. Mir hört ja sowieso nie jemand zu. Warum also nicht?«
    Gloria starrt ihn nur an.
    »Nein, du hast recht. Das wäre kindisch.« Er lässt die Schultern hängen, die Chance ist vertan. »Connie darf Briefe schreiben, weil sie eine Frau mit Gefühl ist – und mit einem Alkoholproblem. Und einer blühenden Fantasie.« Er wird rot und versucht, ihre Worte aus seinem Gedächtnis zu tilgen. »Jemand wie Connie schreibt, weil er jede Hilfe braucht, die er kriegen kann. Und unsere Aufgabe ist es, ihr zuzuhören.«
    Doch damit kann er weder sich selbst noch Gloria etwas vormachen, der nicht entgangen ist, wie sehnsuchtsvoll er vor der offenen Plätzchendose verharrt.

39
    Der Mann heißt Ricky, und er hat offenbar nicht im Traum damit gerechnet, dass Helen zum ersten gegenseitigen Beschnuppern eine Freundin mitbringen würde.
    Nachdem sich seine anfängliche Verwirrtheit gelegt hat, tritt ein immer stärker werdendes Leuchten in seine Augen. Womöglich will Helen ihm auf diese umständliche Art zu verstehen geben, dass sie einen flotten Dreier im Sinn hat. Dabei sieht Ricky nicht so aus, als ob ihm solche Angebote sonst nur so zufliegen. Was seine Aufregung erklären würde.
    Carol überlegt, ob sie Bob erwähnen soll. Aber wahrscheinlich würde Ricky das nur in seiner Vermutung bestätigen, dass sie Vorstadtswinger auf der Suche nach einem neuen Kick sind. Sie wäre nicht überrascht, wenn ihn, überwältigt von den Abgründen, die sich vor ihm auftun, im nächsten Augenblick ein Blutsturz dahinraffen würde.
    Seltsamerweise macht Helen keinerlei Anstalten, sich an dem Gespräch zu beteiligen, als könne sie sich am besten ein Bild von ihm machen, wenn sie ihn im Umgang mit Carol beobachtet oder zeitweise auch beide komplett ignoriert.
    Angesichts der stummen Helen und des staunenden Ricky entartet die Unterhaltung für Carol zu einem Frage-Antwort-Spiel, das eher an ein Vorstellungsgespräch erinnert als an ein geselliges Beisammensein.
    »Und was machen Sie beruflich?«
    »Ich bin Vertreter für Krankenhausbedarf. Das heißt, ich fahre von Klinik zu Klinik und biete meine Produkte an.«
    »Haben

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