Unbekannt verzogen: Roman
Theorie zu überprüfen, würde sie gern warten und beobachten, wie glückliche, erfüllte Mütter zu den Kräutern und Gewürzen greifen, doch untätiges Herumlungern wirkt immer verdächtig. Gegen zielloses Herumschlendern ist in einem Supermarkt nichts einzuwenden – wahrscheinlich irren die meisten Kunden sowieso schon seit Monaten durch die Gänge –, aber wenn sich jemand länger an ein und derselben Stelle aufhält, wirkt er gleich wie ein Raubtier, das auf Beute lauert. Und was würde sie machen, wenn tatsächlich jemand käme? Sich der Frau vorstellen? Sie um ein Rezept bitten? Ihr sagen, dass sie eine Freundin braucht?
Carol reißt sich los und zieht eine Regalreihe weiter.
Einen kleinen Trost hat sie. Wenigstens gibt es in dieser Abteilung Sachen, die sie kaufen kann: den ungesunden Industriefraß, der bei ihnen normalerweise als »Essen« auf den Tisch kommt. In Plastik eingeschweißt und mit Konservierungsmitteln vollgepumpt, sieht das Zeug so aus, als könnte es, ewig frisch und genießbar, bis zum Jüngsten Tag überdauern. Wenn London Pompeji wäre, könnten die Archäologen es in Jahrtausenden ausgraben und das meiste davon noch zum Mittagessen verspeisen. Aber was sagt es über Carol aus, dass sich in ihren Küchenschränken nichts anderes findet?
Von ihrem kulinarischen Gewissen geplagt, steuert sie wieder das Gewürzregal an und legt ein Tütchen Fenchel in den Einkaufswagen. Nach dieser verwegenen Tat geht sie zielstrebig den Weg wieder zurück, den sie gekommen ist. Gelatineblättchen und frische Backhefe müssen auch noch mit. Dass sie nicht die leiseste Ahnung hat, wie man diese Produkte verwendet, kümmert sie nicht weiter. Hauptsache, es ist ein Anfang gemacht.
Am Ende des Ganges packt sie noch zwei Tafeln Bitterschokolade dazu, die ganz dunkle, die Bob und Sophie nicht ausstehen können. Zwar ist Carol zugegebenermaßen selbst nicht besonders scharf darauf, aber in diesem Moment repräsentiert die Schokolade alles, wonach sie sich im Leben sehnt. Während sie den Wagen noch einmal zurück zu den Gewürzen schiebt, blüht sie mit jedem Schritt ein kleines bisschen mehr auf.
Anders als Carol befürchtet hat, ist Bob nicht mit den Nerven am Ende, als er nach Hause kommt, sondern geradezu aufreizend gelassen.
»Sie wollen noch mehr Tests machen«, sagt er. »Gut möglich, dass sich der Tumor noch im Frühstadium befindet.«
Tumor. Frühstadium. Dass Bob neuerdings solche Fachbegriffe benutzt, ist fast ein genauso großer Schock wie der Krebs selbst.
»Das sind ja gute Neuigkeiten«, sagt Carol. »Äh, zumindest relativ gesehen.«
»Aber ich glaube, ich hab mir eine Grippe eingefangen.«
Und schon zieht sich Carols Mitgefühl wieder in seine üblichen engen Grenzen zurück. Das geht jetzt schon seit achtzehn Jahren so: Jedes Niesen ist für Bob bereits eine Grippe, die er mit allen möglichen Hausmittelchen und tagelanger Faulenzerei bekämpft. Doch zum Glück bringt ihn der Anblick der Einkaufstüten schnell auf andere Gedanken.
»Hast du den anderen Kunden auch noch was übrig gelassen?«
Er klingt eher verdutzt als beeindruckt. Da er die meisten Sachen, die sie gekauft hat, niemals anrühren wird, kann Carol ihm leider nicht mit der Ausrede kommen, dass sie überhaupt nur um seinetwillen in den Supermarkt gegangen ist.
»Bitterschokolade ist ja schon schlimm genug«, sagt er. »Aber auch noch mit Chili?« Er verzieht das Gesicht, als ob ihn allein von dem Wort ein Brechreiz überkommt. »Und was hast du damit vor?«
Mit spitzen Fingern hält er eine Tüte Kardamomkapseln hoch. Da ist sogar Carol überfragt. Sie ist einfach dem Duft erlegen, der durch die Verpackung drang. Ein Wohlgeruch nach indischen Tempeln und dem bunten Treiben auf den Straßen von Delhi.
»Hast du zufälligerweise auch irgendwas Genießbares mitgebracht?«
Bob wühlt eine Schachtel mit glasierten Donuts aus einer der Tüten. »Die sind ungesund«, sagt sie. »Das tut dir nicht gut.«
»Wenigstens muss ich davon nicht kotzen.«
Sie schraubt ein Glas mit eingelegten Trockentomaten auf und atmet tief ein: Sizilien, Spätsommer, eine Insel, flirrend im Hitzedunst.
»Ich glaube, ich kriege Kopfschmerzen«, sagt Bob mit vollem Mund, während er sich schon mit klebrigen Fingern einen zweiten und dritten Donut aus der Packung fischt. »Ich hau mich ein bisschen auf die Couch.«
»Heute Abend koche ich uns mal was Neues.« Bob hört sie nicht mehr. »Es wird … eine Überraschung.«
Eine Stunde später hat
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