Unbekannt verzogen: Roman
Affäre anfangen. Du und ich.« Vor Verlegenheit kommen ihr die Worte viel zu schnell über die Lippen, ihre Schritte sind staksig geworden. »Schließlich gilt das als die höchste Form der Liebeskunst. Zwei Frauen, kein Aggressor.«
»Müssten wir dafür nicht erst scharf aufeinander sein?« Helen macht ein gekränktes Gesicht. »Was natürlich nicht heißen soll, dass du keine attraktive Frau bist. Aber ich fliege eben mehr auf … nun ja, Schwänze.«
»Ich wollte doch bloß …«
»Das weiß ich ja! Und es ist wirklich lieb von dir. Dafür sind Freundinnen schließlich da.« Carol hängt sich bei ihr ein. »Wir sind doch sowieso schon wie ein altes Ehepaar.«
»Du sollst nur wissen, dass du hier trotz allem noch glücklich sein kannst. Du musst Bob nicht verlassen.«
Carol lacht, sie fasst es als Scherz auf.
»Du brauchst deine Familie nicht zu zerstören …«, fährt Helen fort.
»Meine ach-so-traute Familie.«
»… nur, um nach etwas zu suchen, das du vielleicht nie finden wirst. Vielleicht sollte man dankbar sein für das, was man schon hat.«
Unter dem Vorwand, sich den Schal fester um den Hals binden zu müssen, lässt Carol ihren Arm los.
»Bob liebt dich«, sagt Helen.
»Ach, ich bitte dich. Bobs einzige Definition von Liebe ist Sex. Also kann er noch nicht mal sich selbst vormachen, dass er in einer liebevollen Beziehung lebt.« Sie steckt die Hände in die Taschen. Die Lücke zwischen ihnen wird größer. »Du schwörst auf Wahrheit und Ehrlichkeit. Aber wo bleibt die Hoffnung? Wo der Optimismus?«
»Ich versuche nur, realistisch zu sein. Manchmal ist es besser, einen Kompromiss einzugehen …«
»Die Flinte ins Korn zu werfen?«
»Sich zu arrangieren … und sich mit einem Stück vom Glück zu bescheiden, statt bis ans Lebensende hinter etwas herzulaufen, was man vielleicht nie erreicht.«
40
Hast Du manchmal auch das Gefühl, dass Dir kein Mensch zuhört? Und damit meine ich nicht, dass Du ignoriert wirst. Sondern, dass keiner hinhört . Dass jeder nur hört, was er hören will.
Meine beste Freundin (Gott, wie pubertär das klingt) … meine »engste Freundin« hat mir eben geraten, mich lieber mit chronischem, geisttötendem Frust abzufinden, statt auszubrechen und damit womöglich alles nur noch schlimmer zu machen. Hat sie mir denn seit … ach, seit bestimmt zehn, zwanzig Jahren kein einziges Mal zugehört?
Dass sie mir diesen Rat gibt, kann zweierlei bedeuten. Erstens, dass sie depressiv ist und ihre Hoffnungslosigkeit auf mich übertragen will. Wenn Du sie kennen würdest, wüsstest Du, wie plausibel diese Erklärung ist.
Das wäre die eine Möglichkeit. Aber vielleicht hat sie auch nur aus meiner bisherigen Lebensbilanz gefolgert, dass es für mich besser wäre, wenn ich überhaupt keine Entscheidungen mehr treffen müsste. Und ich gebe zu, da ist was dran: Immerhin bin ich die Frau, die es für eine gute Idee hielt, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt. Ich glaube, wenn ich eine Freundin wie mich hätte, würde ich ihr auch von Entscheidungen abraten. Die Menschheit kann froh sein, dass eine Enddreißigerin aus einer Reihenhaussiedlung nicht über die Mittel verfügt, aus Versehen den ganzen Planeten zu zerstören. Ich wäre eine Gefahr für uns alle.
Ich schreibe Dir gern. Du nimmst einfach alles auf, was ich zu sagen habe, ohne mich zu unterbrechen, ohne missbilligend die Miene zu verziehen. Und weißt Du, was das Seltsamste ist? Es wäre überhaupt nicht schlimm, wenn meine Briefe samt und sonders ungelesen auf dem Müll landen würden. Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich mich in religiöse Menschen hineinversetzen. Solange man mir nicht das Gegenteil beweist, glaube ich, was ich will. Und ich habe beschlossen zu glauben, dass Du alles liest, was ich schreibe. Du hörst mich. Du verstehst mich. Du nickst sogar zustimmend mit dem Kopf und wirst hin und wieder rot.
Ich denke, dass ich Dir schreibe, weil ich müde bin. Das meine ich nicht im wörtlichen Sinne, obwohl ich ein kleines Nickerchen durchaus vertragen könnte. Ich bin es einfach müde, ich selbst zu sein.
Es ist ein bisschen wie mit dem Autofahren. Vor der ersten Fahrstunde sieht es so einfach aus. Sitzt man dann aber selbst hinterm Steuer, ist man erst mal drei Wochen damit beschäftigt, den Motor abzuwürgen. Bloß, dass ich das jetzt schon seit achtunddreißig Jahren so mache. Ich weiß immer noch nicht, wie man den richtigen Gang einlegt, und würde am liebsten anhalten, den Zündschlüssel
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