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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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abgeben und jemand anderen ans Lenkrad lassen.
    Das ist die Religion meiner Mutter – ein Bus für Leute, die das Selberfahren aufgegeben haben. Ein Bus mit harten Sitzen und dreckigen Scheiben, aber alle Insassen sind so demoralisiert vom Anfahren am Berg und Rückwärtseinparken, dass sie sich einbilden, als passiver Passagier ginge es ihnen besser.
    Jetzt habe ich aber ganz schön den Faden verloren. Na so was.
    Mein Vater wollte übrigens nicht, dass ich heirate, hab ich das eigentlich schon mal erwähnt? Nicht, dass ich als alte Jungfer versauern sollte, das nicht. Und er hatte auch nicht vor, mich ins Kloster zu schicken oder so. Er fand einfach, dass mein Zukünftiger ein Volltrottel ist. Er wusste, dass sich noch was Besseres findet. Das konnte er sogar durch den Alkoholnebel erkennen.
    Der Alkohol war immer sein großes Problem. Komischerweise habe ich das Gefühl, dass es bei mir die Nüchternheit ist. Als ob ich erst sagen kann, was ich wirklich meine, wenn ich meinen Verstand abgeschaltet habe. Das ist bestimmt kein gutes Zeichen.
    Soll ich Dir etwas verraten, was sonst kein Mensch weiß? Jedes Mal, wenn ich fotografiert werde, drücke ich die Daumen. Man könnte es eine Angewohnheit nennen, aber das stimmt nicht. Eine Angewohnheit ist etwas, das man unwillkürlich macht. Das Daumendrücken ist eher ein Ritual. Damit zeige ich, dass mehr in mir steckt, als man auf den ersten Blick erkennen kann. Dass das Bild nur die halbe Wahrheit einfängt. Vermutlich will ich dadurch ausdrücken, dass es mich gibt – auch wenn ich die Einzige bin, die etwas davon hat. Soweit ich weiß, scheint sonst keiner an meiner Existenz zu zweifeln. Aber ich fühle mich ein bisschen wie ein Geist, der im Leben anderer Leute herumspukt, statt mein eigenes zu leben.
    Weißt Du was? Das ist doch alles Blödsinn. Wer sagt denn eigentlich, dass ich meinen Mann jetzt nicht mehr verlassen kann? Wer sagt denn, dass er überhaupt Krebs hat? Den Krebs hatte sein linker Hoden, aber der ist ab. Wahrscheinlich längst an eine Dönerfabrik verhökert. Problem gelöst.
    Vielleicht spricht hier der Wein aus mir (ich hatte nur vier Gläser, doch das waren vier zu viel), aber ich werde es ihm morgen sagen. Ich würde es jetzt sofort machen, aber er liegt oben im Bett (mit Fieber … es war doch die Grippe, ach je). So eine böse Person bin ich auch wieder nicht, dass ich ihn aufwecke, bloß, um ihm zu sagen: »Ich verlasse dich.« Außerdem wäre er zu schlaftrunken, um es zu begreifen. Man kriegt ihn nur sehr schwer wach. Noch eine Schwäche, die wir auf seine Mängelliste setzen können.
    Also bleibt es vorläufig unser Geheimnis. Deins und meins.
    Ich könnte Dich natürlich fragen, was Du davon hältst, aber ich stelle mir Dich lieber als stummen Zuhörer vor. Noch bilde ich mir nicht ein, Deine Stimme zu hören. (Ehrlich gesagt, habe ich noch nie verstanden, wieso Johanna von Orléans von aller Welt so bewundert wird. Die Frau war doch reif für die Klapsmühle.)
    Wir haben die Pflicht, uns selbst treu zu bleiben, meinst Du nicht auch? Aber ich habe mir, solange ich denken kann, selbst etwas vorgemacht, und meistens aus vollkommen blödsinnigen Gründen. Doch wenn wir mit unserem Leben unglücklich sind, müssen wir uns der Wahrheit stellen, sonst verwandeln wir uns noch in … jemanden wie mich, könnte man sagen.
    Jeder hat das Recht, glücklich zu sein. Ich. Du. Sogar der Mann, der über mir vor sich hinschnarcht (und dabei garantiert das Kopfkissen vollsabbert. Kein schöner Anblick.)
    Ich mag Dich, verdammt, und ich will, dass Du auch glücklich bist. Also: Nur Mut. Lass Dir nix gefallen!
    C.
    Albert lässt den letzten Absatz noch lange auf sich wirken. Er liest ihn ein ums andere Mal, bis das Lächeln auf seinem Gesicht so strahlend ist, dass Gloria anfängt zu schnurren.

41
    Es ist nicht einfach nur Müll. In gewisser Weise ist es das Lebenszeugnis eines einsamen alten Mannes. Verpackt in einen der dubiosen dünnen Beutel, die Albert im Supermarkt noch so stabil vorgekommen sind. Erst zu Hause hat er gemerkt, dass sie sich höchstens zum Wegwerfen eignen – und zwar am besten in einem solideren, teureren Beutel. Den er aber nicht hat.
    Weil Albert weiß, dass seine Mülltüte jeden Augenblick platzen kann, geht er ganz langsam – vorbei an Max’ Wohnung, von der ein Dunst des Bösen auszugehen scheint, eine tödliche Wolke Radioaktivität. Er braucht sich nicht zu beeilen, er hat noch jede Menge Zeit, um zur Arbeit zu kommen.
    Als

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