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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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er nur noch wenige Schritte vom Müllschlucker entfernt ist, geht die Fahrstuhltür auf und Max kommt heraus, die Morgenzeitung in der Hand.
    »Was drückst du dich denn hier im Laubengang herum?«, blafft er.
    Albert zuckt zusammen.
    Der Beutel platzt.
    Vieles von dem, was der Wind davonweht, lässt darauf schließen, dass Albert an gewissen gesundheitlichen Problemen leidet. Der Rest verrät, dass er sich weniger von Lebensmitteln als von lebensmittelähnlichen Substanzen ernährt, zuckerhaltig und vor Fett triefend.
    »Hast es wohl an der Rosette, hä?«, sagt Max und tritt nach einer leeren Tube Präparation H. Er sieht zu, wie Albert, vom Wind zerzaust, den Müll zusammenklaubt.
    »Und das nennst du Essen, so einen Saufraß?« Eine Verpackung, an der noch Reste von künstlicher Sprühsahne kleben, fliegt über die Brüstung und segelt über London davon. »Sag bloß, so einen Mist hast du deiner Frau auch vorgesetzt? Kein Wunder …«
    Albert ist so tief getroffen, dass er nicht einmal merkt, wie Max weitergeht, und als ihm das Wasser in die Augen steigt, kann es auch an dem eisigen Wind liegen.
    Er sackt in sich zusammen, fühlt sich älter und kreuzlahmer als jemals zuvor. Es liegt immer noch Müll herum, aber wen soll das schon kümmern, hier in Südlondon?
    Mit letzter Kraft schleppt er sich ins Treppenhaus und setzt sich auf eine verdreckte Stufe. An den Wänden um ihn herum prangen Parolen mehrerer Generationen, Albert fühlt sich, als zögen die Jahre in Zeitraffer an ihm vorbei – von den wilden Zeiten, als ein »Hurra, die Schule brennt« noch als subversiv galt, bis zu den frischeren Schmierereien wie »Scheißhomos« oder »Nigger raus«. Albert würde diesen Schmutz gerne ignorieren, er kann aber nicht wegsehen, muss seinen Blick an etwas heften, sonst wird er wahnsinnig. Denn wenn er die Augen schließt, findet er sich an den Morgen zurückversetzt, an dem alles anders wurde, weil seine Frau tot neben ihm im Bett lag. Und in seine Erinnerungen mischt sich schrill Max’ höhnische Stimme, das Einzige in seinem Leben, das die Jahre überdauert hat.
    Er kann hören, dass Max angefangen hat, draußen im Laubengang die Blumen zu gießen. Wenigstens wird er sich an so einem kalten windigen Tag nicht länger als nötig damit aufhalten.
    Albert begreift einfach nicht, was ein Mann wie Max an Pflanzen findet, wie jemand, der so grausam ist, Gefallen daran hat, ein anderes Wesen zu hegen und zu pflegen. Das ist genauso absurd, als wäre Hitler schon beim Anblick seines mit dem Bauch nach oben dümpelnden Goldfischs in Tränen ausgebrochen.
    Das Zufallen von Max’ Wohnungstür reißt ihn aus seinen Gedanken. Leise rappelt er sich auf und späht vorsichtig um die Ecke den Gang hinunter. Keine Menschenseele in Sicht.
    Auf Zehenspitzen schleicht er zu seiner Tür zurück. Geräuschlos wie ein Ninja schließt er sie auf und drückt sie so sacht wieder zu, dass Gloria seelenruhig weiterschläft.
    Albert meldet sich nicht krank. Heute könnte er den Unterton in Darrens Stimme, mit dem er ihm zu verstehen gibt, für wie unwichtig und nutzlos er ihn hält, schon gar nicht vertragen. »Lass dir ruhig Zeit mit dem Gesundwerden. Wir brauchen dich hier sowieso nicht.«
    Er würde gern die Sachen seiner Frau aus dem Kleiderschrank nehmen, sie berühren, an sich drücken, aber das kann er sich nicht antun. Nicht mehr. Der kurze Trost ist nichts gegen den Schmerz, der danach kommt, nichts gegen das Wissen, dass von einer liebenden Frau nichts geblieben ist als ein paar gebrauchte Kleidungsstücke, die nach Alter riechen und Verfall.
    Stattdessen holt er Connies Briefe aus der Plätzchendose. Er vertieft sich in jeden einzelnen, verliert sich in ihrer Handschrift, dem Auf und Ab der Linien, den Punkten und Schlaufen. Er kann sie fühlen wie einen direkten Kontakt: eine sanfte Berührung, eine warme Umarmung, ein leises Mach’s gut .
    Und plötzlich geschieht es, in ihrem letzten Brief, im letzten Abschnitt. Die Sätze ziehen ihn magisch an. »Ich mag Dich, verdammt, und ich will, dass Du auch glücklich bist. Also: Nur Mut. Lass Dir nix gefallen!«
    Da kommt es über ihn.
    Im Nachhinein wird Albert seine Idee wie eine kosmische Offenbarung vorkommen, jetzt aber schlägt sie ihm erst mal nur aufs Gewissen. Sie ist so tückisch, so hinterlistig, so … böse.
    Er wirft einen Blick auf Gloria, hofft auf einen tadelnden Blick.
    Sie zwinkert ihm zu und fängt an zu schnurren.
    Ein Zeichen!
    Als Postbeamter entwickelt man ein

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