Unbekannt verzogen: Roman
Gespür für die Gewohnheiten anderer, für die Gezeitenbewegungen, die das Leben der meisten Menschen prägen. Ein Grund dafür, dass Max abends immer so übel herumstänkert, sind beispielsweise die ein, zwei Halben Bier, die er sich nach dem Mittagessen genehmigt.
Und so legt Albert sich zum zweiten Mal an diesem Tag auf die Lauer und wartet, dass Max das tut, was er immer tut. Doch diesmal erfüllt ihn ein Gefühl freudiger Erregung. Endlich haben Jäger und Gejagter die Seiten gewechselt.
Nachdem Max in die Kneipe gegangen ist, wartet Albert sicherheitshalber noch gute zehn Minuten, für den Fall, dass er etwas vergessen hat und noch einmal zurückkommt.
Dann macht er sich mit klopfendem Herzen auf den vertrauten Weg. Er geht in den Supermarkt.
Die Kassiererin scheint sich nicht darüber zu wundern, dass Albert sechs große Flaschen Chlorbleiche kauft. Oder es fällt ihr gar nicht auf.
Mit der Eleganz eines vorsintflutlichen Roboters zieht die pummelige junge Frau die Flaschen über den Scanner.
»Ganz schön kalt draußen«, sagt er, in der Hoffnung, sie damit aufzuheitern, dass sie im Warmen sitzt, und als Ermutigung, dem Stumpfsinn mit ein paar freundlichen Worten die Stirn zu bieten. Sie gönnt ihm tatsächlich einen flüchtigen Blick, doch noch bevor er zurücklächeln kann, konzentriert sie sich schon wieder auf das langsam laufende Förderband, eine Endlosschleife des Elends, wie ihr Leben.
Während Albert seine Tüten nach Hause schleppt, gehen ihm diese Gedanken nicht mehr aus dem Kopf. Leeres Geschwätz ist das Letzte, was diese junge Frau braucht, und schon gar keine Bemerkungen über die Welt draußen. Da könnte man genauso in den Zoo gehen und den Pinguinen die Antarktis schlechtmachen. »Seid froh, dass ihr hier eingesperrt seid und auf vollgeschissenem Beton rumwatscheln könnt.«
Nein, er hätte ihr mit der ganzen Autorität eines liebevollen Vaters fest die Hand drücken und sagen sollen: »Nur Mut. Lass Dir nix gefallen!«
42
Carol hat keinen guten Tag, auch wenn es Bob beim Aufwachen besser ging als in den letzten Tagen. Das Fieber und die Gliederschmerzen sind weg. Damit hat es sich dann aber auch schon mit den positiven Nachrichten. Die schlechte lautet, dass der Krebs gestreut hat und der Facharzt so bald wie möglich weitere Tests machen möchte.
Carol denkt es sich sofort, als sie Bob bleich und starr auf der Wohnzimmercouch findet, den Telefonhörer noch in der Hand.
»Du schaffst das.« Sie setzt sich zu ihm. »Wir stehen das gemeinsam durch. Du und ich.«
Schweigen. Schließlich sagt Bob: »Ich will eine Party.«
»Wie bitte?«
»Ich will eine Party schmeißen. Ein letztes Mal richtig abfeiern.«
»Das hört sich ja so an, als wärst du schon fast tot.« Er zuckt zusammen. »Entschuldige. Ich meine bloß, ist das wirklich der richtige Zeitpunkt für eine Party?«
»Aber wenn die Testergebnisse positiv sind, ist nichts mehr so, wie es war. Dann kommt die Chemo und …«
»Jetzt warte es doch erst mal ab, Bob.«
»Dann erfährt es jeder.«
»Sollen wir es den Leuten nicht einfach sagen?«
»Nein! Das darf keiner wissen!«
»Ich weiß ja, wie du dich fühlst …«
»Ach ja? Hast du etwa auch Krebs?«
»Äh, nein.«
»Also weißt du auch nicht, wie ich mich fühle. Ich will eine Party.«
Carol möchte nicht mit ihm streiten. »Gut, dann sollst du deine Party haben.«
»Heute Abend.«
»Bob!«
»Mir läuft die Zeit davon.«
»Aber es ist schon kurz vor drei!«
»Was müssen wir denn groß vorbereiten? Ein paar Tüten Chips aufmachen, ein paar Schüsseln mit Erdnüssen hinstellen. Alles, was wir sonst noch brauchen, ist genügend Alkohol, und das dürfte ja wohl kein Problem sein.«
»Und Gäste, Bob. Die meisten Leute haben gern mehr als nur vier Stunden Vorwarnung.«
»Helen bestimmt nicht.«
»Helen lade ich gar nicht erst ein«, sagt sie so entschlossen, dass sogar Bob stutzt. »Wenn ich Helen einlade, wittert sie womöglich, dass etwas nicht stimmt. Sie hat einen Riecher für so was.«
Er gibt sich damit zufrieden. »Gut, aber unsere anderen Bekannten sind auch alle arme Schweine. Die haben garantiert nichts Besseres vor. Und sie sind es mir schuldig, dass sie kommen.«
»Nur, wenn du ihnen erzählst, was los ist.«
»Es gibt nichts zu erzählen.«
»Doch, verdammt. Du hast Krebs!«
Lähmende Stille tritt ein, und Carol fragt sich, wie wohl Mutter Teresa oder Lady Di mit dieser Situation umgegangen wären. Geschrien hätten sie jedenfalls
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