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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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fade.«
    Sie kommt auf Carol zugerauscht, eine selbstzufriedene Person, mit Gott auf du und du.
    »Auch wenn das Essen nichts taugt, freue ich mich, mal wieder hier zu sein. Ich habe nicht geglaubt, dass wir noch mal eingeladen werden.«
    »Tja, da hast du’s«, knurrt Carol. »Mal wieder das Falsche geglaubt.«
    Bevor der Abend völlig aus dem Ruder läuft, flüchtet sie sich in die Küche. Sie hat es von Anfang an kommen sehen, dass die Party in einer Katastrophe enden würde, sich selbst dabei aber eher als Schaulustige gesehen und nicht als verletzte Passagierin im rauchenden Flugzeugwrack.
    Doch so leicht lässt Deirdre sich nicht abschütteln. Schon versucht sie, ihren Mann im Rollstuhl über den langflorigen Teppichläufer hinter Carol her durch die Tür zu schieben.
    »Was macht ihr da?«, fragt Carol.
    »Unsere Tochter besuchen. Was sollten wir in diesem Haus sonst machen?«
    Das ist wohl der vernünftigste Satz, den ihre Mutter seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten von sich gegeben hat. Was sollte man in diesem Haus sonst machen? Sich unter die verlorenen Seelen mischen, billiges Knabberzeug in sich hineinstopfen? Eines jedenfalls mit Sicherheit nicht: mit Bob über seinen Krebs sprechen.
    »Nett von euch«, sagt Carol, »aber es passt mir leider gerade ganz schlecht.«
    »Weißt du was? Es geht nicht immer nur um dich.«
    Nachdem Deirdre es endlich mit dem Rollstuhl in die Küche geschafft hat, ist es dort beklemmend eng geworden.
    »Ich meine doch bloß, dass mir momentan andere Sachen auf der Seele liegen.«
    »Das ist eben die Quittung, wenn du dich von Gott abwendest.«
    »Na klar, weil du ja auch ein ach, so glücklicher Mensch bist.«
    Für Sekundenbruchteile sieht es so aus, als ob ihr Vater in Deckung gehen will. Seine Miene sagt alles. Er ist zwischen die feindlichen Linien geraten, die ersten Schüsse sind gefallen, es gibt kein Zurück mehr.
    »Ich kenne kaum einen Menschen, der unglücklicher ist als du«, sagt Carol, von Silbe zu Silbe lauter werdend. »Soll das etwa Werbung für deinen Glauben sein?«
    »Der Weg der Wahrheit ist ein Weg des Leidens.«
    »Sagtest du nicht gerade, er wäre ein Weg des Glücks?«
    »Er ist beides.«
    »Dann hast du ja auf jeden Fall das große Los gezogen.«
    »Wenigstens rege ich mich nicht auf.«
    »Und warum rege ich mich auf? Doch nur, weil … weil du eine garstige alte Frau bist, die sich zeit ihres Lebens hinter einem menschenfeindlichen Dogma versteckt …«
    Deirdre stürmt hinaus. Carol läuft ihr keifend in die Diele hinterher.
    »… weil du Schiss hast, dein Leben selbst in die Hand zu nehmen und glücklich zu sein.«
    Den entgeisterten Gästen bleibt der nächste Bissen im Hals stecken.
    Carol tritt den Rückzug in die Küche an. Ihr Vater versucht, ihr etwas zu sagen, doch aus seinem Mund kommt nur unverständliches Gebrabbel. Was er ihr mitteilen will, könnte unendlich wichtig sein – vielleicht sind es die liebsten, zärtlichsten Worte, die er jemals von sich geben wird –, aber sie bleiben in dem Gewirr aus abgestorbenen grauen Zellen hängen, verfangen sich in seinem geschädigten Hirn und finden nicht hinaus.
    Und dann steht mit versteinerter Miene auch schon wieder Deirdre in der Tür, den Mantel über die Schultern geworfen.
    »Wir gehen«, sagt sie, ohne Carol eines Blickes zu würdigen.
    Während sie mit dem Rollstuhl kämpft, sehen Carol und ihr Vater sich an, zwei Menschen, die wissen, was Machtlosigkeit bedeutet.

43
    So etwas ist neu für Albert. Natürlich ist er schon früher manchmal die halbe Nacht auf gewesen, aber da haben ihn Reue- und Verlustgefühle wach gehalten. Diesmal ist es anders. Im Schein einer einzelnen brennenden Lampe, der den Rest des Zimmers in tiefes Dunkel taucht, genießt er die Stille, die Spannung. Das übliche leise Dröhnen der Stadt, das von draußen hereindringt – Südlondon, wie es aus dem letzten Loch pfeift –, verstärkt die Stille nur noch.
    Als die Zeiger der Uhr sich der Zwölf nähern, wirft er Gloria ein Lächeln zu.
    »Es ist so weit …«
    Leise und vorsichtig stellt er eine Flasche Chlorbleiche in die Tür, damit sie nicht ins Schloss fällt, und schleicht hinaus. Ohne die Wärme der Sonne, die den Übergang zum Winter abmildert, ist die Luft frostig. Auf Strümpfen pirscht er sich mit einer zweiten Flasche an Max’ Pflanzen heran und fängt an zu gießen.
    Während der erste Topf die Flüssigkeit aufsaugt, kämpft Albert mit seinen Gewissensbissen. Max hat die Vorhänge zugezogen,

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