Unbekannt verzogen: Roman
die mitten in der Nacht hinter ihren Nachbarn herspioniert.
»Ich habe mich in meine Mutter verwandelt«, murmelt sie.
Als sie sich vom Fenster abwendet, fasst sie den Entschluss, ihre Nachbarn nie wieder zu verurteilen. Sollen sie ruhig protzige Autos fahren und sich ihren Vorgarten mit Fahnenmasten vollstellen. Schlimmer als die Entscheidungen, die sie in ihrem Leben getroffen hat, ist das alles auch nicht.
Damit das Ergebnis ihrer Selbstprüfung nicht allzu bitter ausfällt, hilft nur noch mehr Alkohol. Carol geht in die Küche und gießt sich ein großes Glas Wein ein.
»In Afrika sterben die Kinder«, sagt sie. »Es wäre ein Verbrechen, den guten Tropfen umkommen zu lassen.« Als sie sich umdreht, steht Sophie hinter ihr und beobachtet sie. »Verdammt.« Sie zuckt so heftig zusammen, dass ihr fast der Wein aus dem Glas schwappt. »Wo kommst du denn her?«
»Ich dachte, es schlafen alle.« In Sophies Stimme schwingt ein kritischer Unterton mit, als gäbe es für Carols Wachsein eine tiefere pathologische Ursache.
»Wir hatten eine Party.«
»Warum?«
Carol sucht nach einer plausiblen Erklärung. Sie hat zu viel getrunken, das Lügen fällt ihr schwer. »Warum nicht? Wir hatten mal wieder Lust, alte Freunden zu sehen.«
Diese Antwort reicht Sophie offenbar nicht aus. Wortlos lässt sie Carol stehen. Kaum ist sie draußen, kippt Carol den Wein hinunter und schenkt sich nach. Zwischen zwei Schlucken ruft sie ihr hinterher: »Und was hast du heute Abend gemacht?«
»Rebecca bei Physik geholfen.«
Na klar, denkt Carol. Was würde eine Siebzehnjährige auch sonst bis um drei Uhr in der Früh treiben?
Sie fragt sich, wie die nächtliche Begegnung in der Küche wohl abgelaufen wäre, wenn Sophie nach einem sexuellen Fiasko in Tränen aufgelöst heimgekommen wäre, nach einer schäbigen Nummer im Suff oder sogar mehreren, mit den Nerven am Ende aus Angst vor einer Geschlechtskrankheit oder Schwangerschaft. Zum ersten Mal seit Jahren hätten Carol und sie wirklich eine Gemeinsamkeit entdeckt.
»Wer ist das?«, fragt Sophie aus dem Wohnzimmer.
Als Carol hinüberläuft, steht sie vor dem Computer und sieht sich, interessiert und argwöhnisch zugleich, das Foto an.
»Ach, niemand, bloß ein alter Bekannter.«
»Wie ›alt‹?«
»Ein, zwei Jahre nach der Uni. Er heißt Richard.« Sie lächelt. Seinen Namen endlich wieder einmal laut auszusprechen, lässt die Erinnerungen noch lebendiger werden. »Wir haben vor Ewigkeiten zusammen gearbeitet. Er hat nach ein paar Monaten aufgehört, aber … wir sind noch lange in Verbindung geblieben.«
Die verschleierte Ehrlichkeit tut ihr so gut, dass sie gern noch mehr sagen würde, viel mehr. Sie könnte Sophie erzählen, dass sie ihn sogar einmal getroffen hat, an einem Tag, der so glücklich und perfekt war, dass sie das Gefühl hatte, das Leben könne ihr nie wieder etwas anhaben.
Carol wirft einen Blick auf den Briefbogen, doch zum Glück liegt er mit der Schrift nach unten.
»Ich schreibe ihm gerade einen Brief.«
»Hast du dafür nicht den Computer?«
»Ich bin eben ein bisschen altmodisch.«
Damit hat sie zumindest einen glaubhaften Satz von sich gegeben.
Mit einem letzten Blick auf das Foto geht Sophie aus dem Zimmer. Leise wie ein Raubtier schleicht sie die Treppe hinauf.
Meine Tochter hat gerade sein Bild gesehen. Auf der Rangliste der Fehler, die man als Mutter machen kann, rangiert das ungefähr auf derselben Stufe wie das Angebot, sie mal an meinem Crackpfeifchen ziehen zu lassen. Was im Übrigen nicht heißen soll, dass ich Crack rauche, obwohl ich es Dir nicht verdenken könnte, wenn Du mir das zutrauen würdest. Es wäre immerhin für so manches eine gute Erklärung.
Sie stand da und hat sich mein intimstes Geheimnis angesehen. Es hätte der ultimative Mutter-Tochter-Vertrautheitsmoment sein können. Ich glaube, ich habe es mir sogar gewünscht. Aber dann war die Gelegenheit auch schon wieder vorbei.
Als rationaler Mensch, der sie nun mal ist, hätte sie bestimmt gar nicht wissen wollen, dass ich in diesen Mann verliebt war. Dass uns im Bett die Leidenschaft wahrer Seelenverwandter verbunden hat. Allerdings hätte es sie vielleicht interessiert, warum ich bei ihrem Vater geblieben bin. Es wäre ihr sicher eine Genugtuung, dass ich diese Entscheidung seitdem jeden Tag bereut habe. Sie katalogisiert gern meine Fehler.
Ich könnte Dir noch so viel mehr über den heutigen Abend erzählen … erst hatten wir eine Katastrophenparty (wenigstens mal
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