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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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Plastikbechern.
    Sie holt sich ihren Laptop, den Bob ihr im letzten Jahr zu Weihnachten geschenkt hat. Eigentlich sollte das Gerät ihr Sprungbrett ins einundzwanzigste Jahrhundert sein, ihr die Möglichkeit geben, alte Freunde wiederzufinden und rund um die Uhr per E-Mail erreichbar zu sein. Aber daraus wurde nichts. Dafür, dass der Kontakt zu manchen Bekannten von früher eingeschlafen ist, gibt es gute Gründe, und wer hätte ihr eine E-Mail schreiben sollen? Ihr Verhältnis zu Bob und Sophie ist zwar zerrüttet, aber wenigstens reden sie noch miteinander. Helen würde ihr eher Rauchsignale schicken als eine Mail. Von Mandy hätte sie höchstens Spam zu erwarten, und Carols Arbeitskollegen würden das Mailen nur missbrauchen, um sich wichtig zu machen und ihr auch noch die Abende und Wochenende mit Bürogeschwätz zuzumüllen, über das sich das Reden nicht einmal während der Arbeitszeit lohnt.
    Zwar hat das Geschenk Bobs Erwartungen nicht erfüllt, aber Carol hat eine andere Verwendung dafür gefunden. Sie benutzt den Laptop als Archiv, in dem sie ihre Erinnerungen vor neugierigen Blicken schützen kann. Da sie Bob natürlich nichts davon erzählt hat, ist der Computer unbeabsichtigt zu einem Symbol ihrer Entfremdung geworden – nicht nur, dass Bob sie nicht versteht, er kennt sie nicht einmal.
    Flackernd baut sich der Bildschirm auf. Sie hat Gewissensbisse, weil sie an eine Erinnerung rühren will, die besser in der Vergangenheit aufgehoben bliebe. Aber sie kann nicht anders …

46
    Ich besitze immer noch sein Foto. Habe ich das schon einmal erwähnt? Ich weiß ja, dass es nicht richtig ist, aber was will man machen? Zu meiner Ehrenrettung kann ich nur sagen, dass ich es mir nicht oft ansehe. Eigentlich ist es eine Ironie des Schicksals, dass ich auf dem Computer, den Bob mir geschenkt hat, ein Bild von dem Mann gespeichert habe, mit dem ich ihn betrogen habe. Obwohl betrogen das falsche Wort ist. Betrügen impliziert, dass ich meinem Mann etwas vorgemacht habe. Aber das stimmt nicht. Ich habe ihm nicht jeden Tag gesagt, dass ich ihn liebe. Ich habe keine gemeinsamen Zukunftspläne mit ihm geschmiedet. Wir waren verheiratet und haben unser Kind großgezogen – mehr nicht. Mein Herz hat immer Richard gehört.
    Sie starrt auf den Bildschirm mit Richards Foto. Es war schon damals nicht besonders gut gelungen und nach dem Einscannen kamen seine Schwächen noch deutlicher zum Vorschein. Aber es ist das Einzige, das ihr aus jener Zeit geblieben ist. Ihr reicht es vollkommen. Er sieht noch immer so jung und frisch aus wie beim ersten Mal, sein Körper straff und fest unter ihren Händen, zwischen ihren Schenkeln.
    Ich muss die Vergangenheit ruhen lassen, aber vieles in mir zieht das Gestern dem Heute vor. Und nicht nur wegen Richard, sondern auch meinetwegen: Damals schien mir das Leben voller Verheißungen, ich glaubte noch an Möglichkeiten und Träume – und an ein Happy End. Vielleicht vermisse ich weniger Richard als mich selbst.
    Aber wenn ich in seine Augen sehe, weiß ich, was ich in Wahrheit vermisse: uns.
    Eine zuschlagende Autotür auf der Straße reißt sie aus ihren Gedanken. Sekunden später ist betrunkenes, schrilles Gelächter zu hören.
    Carol zieht den Vorhang einen Spaltbreit auf. Die Nachbarn mit der Fahnenstange schwanken mit Partyhüten auf dem Kopf durch ihren Vorgarten.
    Während sich die Frau, in deren Mundwinkel eine Zigarette hängt, unter Verrenkungen von ihrem BH befreit, holt ihr Mann die Fahne ein. Zwischendurch stärkt er sich immer wieder mit einem Schluck aus einer Sektflasche.
    An den schweren Geländewagen gelehnt, gelingt es der Frau schließlich, den BH auszuziehen. Sie schnappt ihrem Mann die Sektflasche weg, setzt sie an und trinkt mit gierigen Zügen. Ihr Mann hisst unterdessen den BH .
    Da es fast windstill ist, kann man leider nicht erkennen, dass das schlaffe, mit Spitzen besetzte Fähnchen an der Mastspitze ein Büstenhalter ist. Für das Ehepaar ist dieser Anblick offensichtlich trotzdem der Höhepunkt des Abends. Unter Lachkrämpfen plumpsen sie ins Gras.
    Carol rümpft die Nase über das Spektakel – ihr kommen auf Anhieb zwei Ideen, wohin sie die Fahnenstange jetzt gern schieben würde. Andererseits, wer wäre nicht neidisch auf ein Ehepaar, das so viel Spaß miteinander hat? Wenn sie sich schon an einem kalten Abend in Croydon so prächtig amüsieren, wie ausgelassen müssen sie dann wohl erst im Urlaub sein? Und was ist Carol dagegen? Die unglückliche Ehefrau,

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