Unbekannt verzogen: Roman
seine Fenster sind dunkel.
»Nimm es nicht persönlich«, flüstert Albert der Pflanze zu. »Du kommst jetzt an einen besseren Ort.«
Er hat damit gerechnet, dass die Pflanze sofort vor seinen Augen dahinwelken würde, doch es tut sich gar nichts. Ein wenig enttäuscht, aber auch schuldbewusst, leert er die Flasche bis auf den letzten Tropfen in den dritten und vierten Topf aus und huscht auf Zehenspitzen zurück, um Nachschub zu holen.
Spätestens bei der dritten Flasche empfindet er sein Tun als angenehm beruhigend. Während er die Pflanze mit Chlorbleiche gießt, begreift er auf einmal, warum Max so gerne gärtnert.
Ganz in Gedanken verloren, bemerkt er nicht, dass der Fahrstuhl auf seiner Etage hält. Erst als die Tür aufgeht und ihn das herausfallende Licht trifft, blickt er hoch. Leise plätschert die Bleiche in den Topf.
Im Fahrstuhl steht ein Pärchen, so eng ineinander verschlungen, dass es eher nach einem Ringkampf aussieht. Das Mädchen, das sehr viel jünger ist als der Mann, tastet blind nach dem richtigen Knopf.
Als sie ihn nicht finden kann, öffnet sie schließlich doch die Augen und haut mit der geballten Faust darauf. Bevor sich die Tür einen Sekundenbruchteil später wieder schließt, starren Albert und sie einander verständnislos an: er, der die Pflanzen mit Bleiche gießt, sie, die die Beine um einen doppelt so alten Mann schlingt. Dann gleitet die Tür zu, und sie sind fort.
Es ist ein Uhr morgens, und Albert ist überzeugt, nie wieder schlafen zu können – nie wieder schlafen zu wollen . Erst seit er wieder wohlbehalten in seiner Wohnung ist, wird ihm das ganze Ausmaß seiner Aktion nach und nach bewusst. Das Entsetzliche, aber auch Aufregende einer Tat, die er nicht mehr ungeschehen machen kann.
Die Flaschen sind längst im Müllschlucker gelandet, die schmutzigen Socken liegen auf dem Grund des Wäschekorbs. Er ist selbst beeindruckt, wie mühelos er diese hinterhältige Gemeinheit gemeistert hat.
Eine solche Heldentat kann er unmöglich für sich behalten.
44
Liebe Connie,
ich möchte Dir für Deine Briefe danken, über die ich mich sehr gefreut habe. Sie haben auf unerwartete Weise Schwung in mein Leben gebracht.
Er gerät ins Stocken. Es stimmt ja gar nicht, dass er sich über jeden ihrer Briefe gefreut hat – den, in dem sie betrunken und beleidigend war, hat er zum Beispiel in den Müll geworfen. Und die Sache mit dem Schwung, den sie in sein Leben gebracht hat, könnte sie, nachdem sie sich so ausführlich über ihre sexuellen Eroberungen und Fantasien ausgelassen hat, unter Umständen als Zweideutigkeit auffassen.
»Was würde ich schreiben, wenn ich ihr Vater wäre?«, überlegt er laut.
Aber dieser Ansatz bringt ihn auch nicht weiter, nicht zuletzt deswegen, weil sie ihrem Vater solche Sachen vermutlich nie anvertraut hätte. Und wenn doch, würde sie von ihm eine schallende Ohrfeige bekommen und keinen Dankesbrief.
Am besten zerbricht er sich nicht weiter den Kopf und schreibt einfach weiter.
Dein letzter Brief hat mich besonders inspiriert. Ich glaube, ich war ein ängstlicher alter Mann geworden. Ein alter Mann bin ich immer noch, aber Deine Zeilen haben mich mutiger gemacht. Dafür möchte ich Dir danken.
Als ich beim Militär war …
Er streicht den Halbsatz durch, starrt lange auf das Blatt Papier hinunter und knüllt es schließlich zum Knäuel zusammen.
Gloria sieht zu, wie er es Sekunden später wieder auseinanderfaltet und auf dem Tisch glattstreicht.
»Als Einkaufszettel taugt es noch allemal. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.«
Er legt das zerknitterte Blatt weg und nimmt sich ein neues.
Liebe Connie,
Du sollst mich nicht für einen von den alten Männern halten, die immer vom Krieg erzählen. Darum lasse ich es bleiben. Ehrlich gesagt, bin ich auch gar nicht alt genug dafür. Ich bin 1946 geboren, fast neun Monate nach Kriegsende. Man kann sich denken, wie meine Eltern den Sieg gefeiert haben.
Er hält inne, erstaunt über seine Offenheit.
»Jetzt bin ich schon fast so schlimm wie sie.« Aber es ist ein gutes Gefühl. Es macht ihn frei, dass er mit ihr so reden kann, wie er es bei keinem anderen Menschen wagen würde.
Obwohl ich noch nicht so alt bin, passe ich, glaube ich, eher in die Nachkriegsjahre als in die Welt von heute. Damals war das Leben anders. Wahrscheinlich hältst Du mich jetzt für geisteskrank, dass ich mich so nostalgisch über die Nachkriegszeit auslasse. Ich denke, genau da liegt das Problem. Entweder ist die
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