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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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Welt übergeschnappt oder ich.
    Ich wollte Dir nur gesagt haben, wie unendlich viel einem einsamen alten Mann Deine Briefe bedeuten. Einige waren für meinen Geschmack ein bisschen zu gewagt, aber letzten Ende kommt es darauf an, was für ein Herz man hat, und nicht auf das, was man sich vielleicht zuschulden hat kommen lassen.
    Albert liest sich den Absatz langsam noch einmal durch. Alles klingt genauso weise und väterlich, wie er es sich gedacht hat. Auch lastet ihm plötzlich der Pflanzenmord nicht mehr so schwer auf der Seele. Wie durch eine Absolution befreit, schreibt er weiter.
    Erst durch Deine Briefe habe ich gemerkt, dass ich einsam bin. Und dafür bin ich Dir dankbar. Das mag Dir seltsam vorkommen, aber Du hast mich wachgerüttelt, mir die Augen dafür geöffnet, was aus mir geworden ist. Vor fast vierzig Jahren ist nämlich meine Frau gestorben, und ein Teil von mir mit ihr.
    Obwohl seine Augen in Tränen schwimmen, schreibt er weiter.
    Wenn man einen geliebten Menschen verliert …
    Die erste Träne fällt aufs Papier. Unbeholfen wischt er sie mit dem Handrücken weg.
    »Reiß dich am Riemen, Albert.«
    Er schämt sich, dass Gloria ihn hat weinen sehen.
    »Keine Angst, es ist schon wieder vorbei.«
    Es ist schon sonderbar. Dass Du Deinen Mann so gar nicht liebst, hat mich wieder daran erinnert, wie sehr ich meine Frau geliebt habe. In dieser Hinsicht haben wir etwas, was uns verbindet. Du hast nie eine glückliche Ehe gehabt, und ich habe meine verloren. Auf zwei unterschiedlichen Wegen sind wir am selben Punkt angelangt.
    Als meine Frau noch lebte, habe ich ihr versprochen, niemals eine Nacht außer Haus zu verbringen. Daran halte ich mich bis heute. Ich habe ihr Kopfkissen noch und nehme es jeden Abend fest in den Arm.
    Mit dem Kopf auf diesem Kissen ist sie gestorben …
    Wieder kommen ihm die Tränen, schneller und heftiger als zuvor. Doch diesmal schreibt er weiter, ohne sich darum zu kümmern, dass die Tinte verläuft.
    … ganz plötzlich und unerwartet. Das war das Schlimmste. Sie ist nie krank gewesen, jedenfalls nicht ernstlich. Sie war so jung, so lebensfroh, wir hatten noch so viele Pläne. Und wir haben uns geliebt, wir haben uns so sehr geliebt. Und dann war sie auf einmal nicht mehrda. Ihr Herz ist stehengeblieben, während sie schlief. Der Arzt hat gesagt, sie hätte einen friedlichen Tod gehabt, und ich glaube, das stimmt. Sie lag nämlich in meinen Armen. Ich hätte es gewusst, wenn sie Schmerzen gehabt hätte. Ich hätte es gemerkt.
    Ich habe noch das Kopfkissen und ein paar Kleider von ihr, sonst nicht viel. Ich kann mir die Sachen kaum ansehen. Weil es nichts nützt. Sie bringen sie mir auch nicht wieder zurück. Nur die Erinnerungen kommen hoch. Daran, dass ich ihr damals nicht helfen konnte. Dass sie in meinen Armen lag und ich sie nicht retten, nicht halten konnte. Damit muss ich leben. Seit vierzig Jahren schon. Ich rede mir ein, dass ich ihr nicht hätte helfen können, aber woher will ich wissen, ob das stimmt? Diesen Zweifel werde ich nie wieder los.
    Und etwas gibt es, wofür ich mich schäme …
    Er ringt nach Luft, kann die Worte kaum zu Papier bringen.
    Ich kann mich nicht mehr an ihre Stimme erinnern. Ich habe diese Frau mehr geliebt als mein Leben und weiß nicht mehr, wie ihre Stimme klang. Nur, dass ich jedes Mal glücklich war, wenn ich sie hörte.

45
    Es wäre falsch zu sagen, dass es nach dem Aufbruch von Carols Eltern mit der Party bergab ging; sie befand sich schon lange vorher im freien Fall. Der wütende Abgang markierte nur den Aufprall, mit dem menschliche Stumpfheit und Dumpfheit auf dem harten Boden der Realität aufschlugen. Die verbliebenen Gäste reagierten so betreten, als hätten sie im Spiegel der anderen die Tragik der eigenen Existenz erkannt, und stahlen sich nach und nach davon.
    Immerhin konnte das Drama Bob nicht besonders erschüttern. Vielleicht empfand er es sogar als tröstlich, dass es um seine Umwelt auch nicht besser bestellt war als um sein chaotisches Innenleben.
    Kurz nachdem der letzte Gast gegangen war, hat er sich ins Bett verabschiedet, zu betrunken, um ihn noch für irgendetwas zu gebrauchen, und Carol verbringt den Rest des Abends allein.
    Obwohl sie die verschwommene Grenze zwischen sehr spät und sehr früh bereits überschritten hat, will sie noch nicht schlafen gehen, um den Anbruch des neuen Tages möglichst lange hinauszuschieben. Lieber bleibt sie unten im stillen Wohnzimmer, umgeben von schmutzigen Tellern und halbleeren

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