Unbekannt verzogen: Roman
– wie ihre Mutter davonstürmte, ihre Tochter Richards Foto sah, ihr Mann trotz des allmählichen Selbstzerstörungsprozesses seines Körpers friedlich schlief – kommen Carol vor wie Szenen aus einem Film, nicht aus ihrem eigenen Leben. Wie könnte ein solcher Film wohl enden? Ein Happy End ist für sie alle an diesem fortgeschrittenen Punkt der Handlung wohl kaum noch zu erwarten. Viel wahrscheinlicher ist es, dass sie unaufhaltsam einer Katastrophe entgegenrasen, die den Weltuntergang bedeutet. Ein Kometeneinschlag wäre ein viel zu willkürliches, zufälliges Ende, aber ein Sturz ins Bodenlose – ja, das würde passen. Dass sich unter ihnen ein riesiger Hohlraum bildet, der ihre Welt, in der sie sich streiten, belügen und bekämpfen, buchstäblich in den Abgrund reißt; ein langsamer, gnadenloser Countdown, bis sich die Erde auftut und sie schließlich alle verschlingt, die ganze Sackgasse auf einmal. Die Schlussszene wird gerade lange genug dauern, um das ohrenbetäubende Getöse in einem ergreifenden Moment friedlicher Stille ausklingen zu lassen – ein Frieden, wie es ihn in ihrem Alltag nie gegeben hat. Dann läuft der Abspann an.
Vom Adlerhorst ihres Schlafzimmerfensters aus scheint es nicht nur vorstellbar, sondern unumgänglich, dass Carols Welt untergehen muss – vernichtet durch unsichtbare zerstörerische Kräfte.
Die Haustür fällt ins Schloss. Gleich darauf eilt auch schonSophie durch den Vorgarten, über der Schulter die Tasche mit den schweren Büchern, die sie ohne Zweifel bis zum Abend samt und sonders im Gedächtnis gespeichert haben wird.
Das Auto steht in der Einfahrt, was nur bedeuten kann, dass Bob noch unten sitzt und frühstückt oder World of Warcraft spielt, wahrscheinlich beides zugleich.
Er muss heute Morgen zu einer weiteren Testreihe in die Klinik – und wieder fährt er allein hin. Immerhin ist es nicht so schlimm wie bei Tierversuchen, sagt Carol sich; er bekommt weder Shampoo in die Augen gerieben noch Unkrautvernichtungsmittel gespritzt, sondern kann sich nach Strich und Faden umsorgen lassen. Endlich bekommt er die Beachtung, die er sich seit Jahren wünscht. Durch den Krebs hat der Hypochonder in ihm das große Los gezogen. Das dürfte ihm eine gewisse Befriedigung sein.
Bob ist so in sein Computerspiel vertieft, dass er kaum wahrnimmt, wie Carol hereinkommt. Mit ihren verstrubbelten Haaren und dem lappigen Bademantel sieht sie aus wie eine Frau, die sich längst aufgegeben hat.
»Seit wann bist du schon auf?«, fragt sie, während sie nach ihrem Handy sucht.
»So ein, zwei Stunden.« Er sieht sie nicht an, hat nur Augen für den Bildschirm. »Ich wollte dich ausschlafen lassen.«
Carol checkt ihre entgangenen Anrufe. Zwei von Helen – die soll erst mal schmoren – und einen von ihrer Mutter. Weshalb die angerufen hat, ist klar. Natürlich nicht, um sich zu entschuldigen, sondern um so zu tun, als wäre überhaupt nichts vorgefallen, und jede Erinnerung daran mit ihrem üblichen belanglosen Blabla zuzukleistern. Das ist ihre altbewährte Methode, Kränkungen unter den Teppich zu kehren, um sie heimlich als Munition zur späteren Verwendung zu bunkern. Überhaupt ist dies wohl das Grundproblem ihrer Beziehung – das Waffenarsenal, das sie in der Vergangenheit angehäuft haben, istso groß, dass einem zu ihrer Beziehung weniger das Wort Familie als das Wort Geiselhaft einfällt. Mit Deirdre im selben Zimmer sitzen heißt, der Tatsache ins Auge sehen, dass jederzeit eine von beiden auf der Strecke bleiben kann.
»Heute nicht ins Büro?«, fragt Bob.
»Ach Gott, da hab ich ja noch gar nicht dran gedacht.« Sie blickt an ihrem Bademantel hinunter, als sei er eher ein physisches Handicap als ein Kleidungsstück. »Ich melde mich einfach krank.«
»Es geht alles den Bach runter, was?« Er wirkt nicht weiter beunruhigt von der Feststellung. »Alles, was unser Leben ausgemacht hat, ist verschwunden, einfach so.«
TOD
49
Knapp eine Woche bevor er in Rente geht, hat Albert nur noch eins im Kopf: Connie finden. Besonders gut stehen die Chancen nicht, aber die Alternative wäre, bis an sein Lebensende über fünf Briefen in einer alten Plätzchendose zu grübeln. Sicher, er hat Gloria, um die er sich kümmern kann, aber allzu viele Jahre hat sie auch nicht mehr vor sich. Das sieht er ganz realistisch. Und wer weiß, ob sie nicht wieder aus dem Fenster springt, sobald der Gips ab ist? Bei aller Liebe, tot kann sie ihm keine Gesellschaft mehr leisten.
Connie hat ihm
Weitere Kostenlose Bücher