Unbekannt verzogen: Roman
ein echter Anlass, ein bisschen zu viel zu trinken) … und jetzt haben unsere Nachbarn an ihrer Fahnenstange auch noch einen BH gehisst. Ich weiß nicht, was schockierender ist, dass im Vorgarten gegenüber Unterwäsche flattert oder dass dort ein Fahnenmast steht. Ich bitte Dich, ein FAHNENMAST ! Was für ein Mensch stellt sich so etwas in den Garten? Wenn wir im Krieg wären, könnte ich es ja noch verstehen, aber selbst dann … Wäre eine Fahnenstange nicht so etwas wie eine Einladung an feindliche Armeen und tieffliegende Bomber? Vielleicht sollte ich an dieser Stelle anmerken, dass das Ding normalerweise nicht für Unterwäsche benutzt wird. An dem meisten Tagen weht der Union Jack im Wind, damit wir uns alle so richtig schön patriotisch fühlen. Momentan kommen allerdings ganz andere Gefühle in mir hoch, wenn ich an die Fahnenstange denke. Aber vielleicht macht sich die Engländerin in mir erst dann richtig bemerkbar, wenn meinen Nachbarn der verdammte Mast auf ihren Wagen fällt.
Nun ist es also offiziell: Das Niveau in unserer Sackgasse (Mann, wie ich das Wort hasse) hat einen neuen Tiefpunkt erreicht.
Die wesentlich sachdienlichere Frage wäre natürlich: Warum wohne ich hier? Da steckt sicher irgendwo eine Moral drin …
Grüße aus der Hölle.
C.
47
Albert schlurft noch im Bademantel durch die Wohnung, als Max’ Schreckensschrei durch die Wohnsiedlung gellt.
Hastig fährt er in seine Kleider und stürzt nach draußen, wo Max mit tränenfeuchten Augen auf seine Pflanzen starrt.
»Diese Verbrecher!« Er deutet auf die Reihen mit den Töpfen, ein Miniaturmassengrab aus verdorrten Strünken und verseuchter Erde. »Die haben Bleiche drübergeschüttet, eimerweise. Solche Mengen Wasser würden ausreichen, um sie zu ersäufen, aber Chlorbleiche … Die hätten uns alle vergiften können.«
Er wischt sich eine Träne ab und vermeidet es, Alberts Blick zu begegnen.
»Meine schönen Pflanzen … sie waren doch alles, was ich hatte.«
Am liebsten würde Albert ihn daran erinnern, dass er auch noch eine Frau hat und einen Flachbildfernseher, der erst vor wenigen Monaten angeliefert wurde, ganz zu schweigen von seiner geliebten Engelbert-Humperdinck-Sammlung. Im Vergleich zu Albert lebt Max im Überfluss, und das war immer schon das Problem.
Aber der Max, der jetzt neben ihm steht, ist nicht mehr derselbe, er ist ein wirklicher Mensch, verletzlich und tief betrübt, fast rührend in seiner Not.
Albert klopft ihm begütigend auf die Schulter, was er sich nie hätte träumen lassen. Max eine reinzuhauen, ihn über die Brüstung zu schubsen, ihn mit einem Samuraischwert zu durchbohren, das ja, doch ihn zu trösten , niemals.
»Ich könnte dir helfen, die Töpfe neu zu bepflanzen«, schlägt er vor. »Zu zweit schaffen wir das in null Komma nix.«
Max scheint das Angebot zu erwägen. Seine Tränen sind versiegt. Er schnieft nur noch ein paar Mal und trompetet laut in sein Taschentuch.
»Und wieso zum Teufel sollte ich deine Hilfe nötig haben? Als ob’s nicht schon reichen würde, dass diese … diese heimtückische Saubande einem alles kaputt macht.« Er greift sich einen Blumentopf, pfeffert ihn über die Brüstung des Laubengangs und brüllt: »Verfluchtes Dreckspack, euch werd ich’s zeigen!«
Seine Stimme schallt über die Dächer, während der Topf in hohem Bogen durch die Luft fliegt und sechs Stockwerke tiefer zerschellt. Max greift sich den nächsten und feuert ihn hinterher.
»Habt ihr gehört?«, brüllt er. »Eine gottverfluchte Drecksbande seid ihr, alle miteinander!«
Schon bückt er sich nach dem dritten Topf.
»Lass das lieber sein, Max.«
»Verpiss dich!«
Er schleudert den Topf über die Brüstung und schafft es, noch weitere zwei hinterherzuschmeißen, bevor der erste überhaupt am Boden auftrifft.
Nachdem Albert hier nichts weiter ausrichten kann, geht er zurück in seine Wohnung. Max’ Gebrüll und das ferne Splittern von Ton auf Asphalt verfolgen ihn noch durch die geschlossene Tür.
»Ich scheiß auf euch alle, hört ihr? Wehe, ich kriege raus, wer das war, den bring ich eigenhändig um!«
48
Als Carol aufwacht, hängt wieder der Union Jack an der Fahnenstange, als ob nichts geschehen wäre. Sie späht aus dem Schlafzimmerfenster hinüber und wird den Gedanken nicht los, dass sie sich die Sache mit dem BH und das nächtliche Spektakel nur eingebildet hat. Ihr Brummschädel verstärkt noch das Gefühl von schleichendem Realitätsverlust.
Die Ereignisse vom Vorabend
Weitere Kostenlose Bücher