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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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zieht sich die Jacke zurecht und geht mit möglichst selbstsicherem, quasi amtlichem Schritt auf die Haustür zu. Er hat solches Herzklopfen, dass er etwas braucht, das ihm Halt gibt. Zwar ist er nicht in postalischer Mission hier, aber man könnte ihn ja schließlich geschickt haben, um ihr die aktuellen Pakettarife zu erklären oder das neue Kundenmodell vorzustellen: Briefträger werden Brieffreunde.
    Das Schrillen der Türklingel erscheint ihm als ein Signal: Es kündigt einen Anfang an. Sein Weg endet nicht hier, sondern beginnt erst.
    Hinter ihm nähern sich trappelnde Schritte. Als Albert sich umdreht, sieht er Mandy in Stöckelschuhen über die Straße auf ihn zueilen.
    »Bob und Carol sind nicht da. Kann ich was für sie annehmen?« Ratlos mustert sie seine leeren Hände. Albert blickt ebenfalls an sich hinab. Wie dumm von ihm, dass er sich keine Posttasche von den Kollegen vom Außendienst ausgeliehen hat, um glaubhaft zu wirken.
    »Hallo, ich …« Und schon gerät er ins Stocken. Am liebsten würde er dieser Frau alles erzählen. Näher dran an Connie war er noch nie.
    »Ich wollte zu Connie …«
    Mandy macht ein verwirrtes Gesicht.
    »Carol?«
    Sie starren sich an.
    »Sie meinen Carol?«
    Ihr wahrer Name! Nicht ganz der, den er sich gewünscht hat, dennoch: In seinem Innern schmettern vor Freude himmlische Fanfaren.
    »Carol …«, sagt er. »Ja, richtig. Carol hat … unzustellbare Post bei uns. Wir, äh … wir schicken sie nicht mehr an den Absender zurück, aus … aus Einsparungsgründen. Also wollte ich sie davon in Kenntnis setzen, dass sie … die Sendungen persönlich abholen müsste.«
    Mandy scheint sich nicht weiter darüber zu wundern, dass die Post am Sonntag einen Beamten vorbeischickt, der Carol auch noch beim Vornamen nennt.
    »Kein Problem«, sagt sie. »Das kann ich ihr ausrichten.«
    »Ach, das brauchen Sie nicht. Ich bin öfter in der Gegend. Ich probiere es einfach ein andermal.«
    Mandy wirkt erleichtert. Wahrscheinlich ahnt sie, dass sie es sowieso vergessen hätte. Sie stöckelt wieder zurück über die Straße.
    »Entschuldigen Sie«, ruft Albert hinter ihr her. »Wie komme ich denn von hier zur Hauptstraße?«
    Dass ein Postbote nach dem Weg fragen muss – auch dabei denkt Mandy sich nichts.
    »Sie müssen sich immer links halten«, sagt sie stockend. »Ich meine, rechts. Nein, eigentlich beides, aber nicht in der Reihenfolge.« Sie wird rot. »Warten Sie, ich krieg’s besser hin, wenn ich mir vorstelle, dass ich am Steuer sitze.«
    Sie umfasst ein imaginäres Lenkrad und tut so, als ob sie losfährt, inklusive Kuppeln und Schalten. Ganz versunken, scheint ihr gar nicht mehr bewusst zu sein, dass sie mitten auf der Straße steht. Sie sieht aus wie ein Medium, das in Trance gefallen ist und jeden Augenblick Ektoplasma ausscheiden wird.
    »Okay«, sagt sie, den Blick in die Ferne gerichtet, »erst links …« Sie biegt ab. »Dann wieder links …« Sie runzelt die Stirn. Vielleicht ist sie hinter einem Sonntagsfahrer eingekeilt oder muss einem unsichtbaren Kind ausweichen. »Dann rechts. Und dann sind Sie da.«
    »Links, links, rechts. Besten Dank.«
    »Genau wie ein Tanzschritt, nicht? Links, links, rechts.« Siedreht sich um. Ihr blondes Haarbüschel lässt sie aussehen wie ein aufgescheuchtes Kaninchen von hinten.
    »Tschüsschen«, ruft sie ihm noch zu und stakst davon.

54
    Am Montagmorgen sind Bobs Testergebnisse fällig. Der Sturm vom Wochenende hat sich gelegt, und das sonnige Wetter vermittelt wenigstens einen Anschein von Wärme. Da Bob plötzlich so viel Wert auf Omen legt, ist Carol heilfroh, dass sie ihn zum Facharzt fahren kann, ohne dass auch noch düstere Wolken Weltuntergangsstimmung verbreiten.
    Sie reden kein Wort miteinander, und sogar das Autoradio ist stumm. Anfangs lief es noch, als sie links, links, rechts zur Hauptstraße fuhren, Carol voll konzentriert am Steuer, um mit ihrer Fahrweise nur ja kein Unheil heraufzubeschwören, aber auf die Dauer sind die Albernheiten des Moderators und die seichte Popmusik an einem ernsten Tag wie diesem nicht zu ertragen. Stille ist im Augenblick das einzig Angemessene.
    Je weiter sie ins Stadtzentrum vordringen, desto dichter wird der Verkehr, Stoßstange an Stoßstange schiebt sich die Welt vorüber, Männer in weißen Oberhemden, Frauen in dunklen Kostümen. Carol muss an den Tag denken, an dem sie im morgendlichen Berufsverkehr unterwegs nach Heathrow waren, um in den Urlaub zu fliegen, während alle anderen im

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