Unberuehrbar
kalkweiß, seine Wangen eingefallen und die Augen blutunterlaufen. Die gelben Iriden leuchteten seltsam intensiv in den schattigen Höhlen und blickten gehetzt, als sei er auf der Flucht. Er sieht krank aus, dachte Frei erschrocken. Sterbenskrank.
»Frei. Komm her.« Er wartete nicht auf eine Reaktion, sondern durchquerte mit hastigen Schritten den Raum, riss die Tür zu dem Zimmer auf, das neben Freis lag, und zerrte einen großen Wanderrucksack heraus. Vorsichtig näherte sich Frei, während Cedric schon auf dem Weg in ihr Zimmer war. Dort warf er den Deckel der Truhe mit den Blutkonserven beiseite und begann, die Beutel in den Rucksack zu stopfen.
Sprachlos blieb Frei auf der Schwelle stehen. »Cedric … was …?«
Mit einem Ruck zerrte Cedric das Band zu, das den Rucksack verschloss. Dann richtete er sich auf. »Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Du musst hier weg, und zwar sofort.«
Frei riss die Augen auf. »Weg? Aber …«
»Jemand hat herausgefunden, dass du hier bist.« Cedric ließ sie nicht ausreden. »Jemand, dem du nicht begegnen möchtest. Ich habe Informationen über den Ort, an dem Red September zuletzt gelebt hat. Ich gebe sie dir, aber du darfst keine Fragen stellen. Geh einfach dorthin, ich komme nach, sobald ich kann.«
Frei hatte das Gefühl, vom Schlag getroffen worden zu sein. Das alles war zu viel und zu schnell für sie. Cedric hatte Informationen über Red? Warum auf einmal? Warum jetzt? Und warum musste sie gehen? Was war passiert? Sie warf einen Blick zum Fenster, wo der Morgen den Himmel inzwischen in milchigem Blau gefärbt hatte. Der Morgen! Die Sonne! Sie konnte unmöglich da rausgehen!
Cedric fasste sie an den Schultern. »Hör zu, Frei. Du musst mir jetzt vertrauen, einverstanden?«
Frei presste die Lippen zusammen und nickte. Ihr war plötzlich schlecht. »Warum kommst du nicht mit?«
Cedric schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Er findet dich sonst. Aber ich komme nach. Ich verspreche es dir.«
Frei atmete zitternd ein. Er … wer zur Hölle war denn
er
? Und …
»Die Informationen?«, brachte sie hervor. Sie hatte das Gefühl, ihr ganzer Körper würde unter Strom stehen.
Cedric sah sie eindringlich an. Dann griff er nach ihren Händen. »Ich kann sie dir nicht geben.« Seine Stimme klang nun sehr angespannt. »Du musst sie dir nehmen.«
Frei schnappte nach Luft. Sie nehmen? Ja, er hatte ihr einmal beschrieben, dass das mit ihrer Gabe möglich war. Aber sie hatte das noch nie gemacht!
»Frei«, drängte Cedric. Sein Blick flog zur Tür, hinter der sich der Fahrstuhl verbarg. »Tu es.
Jetzt.
«
Frei verkrampfte ihre Finger um seine, als ob ihr Leben davon abhinge. »Aber … ich kann das nicht!«
Cedric atmete tief durch. Frei spürte seine Unruhe mit jeder Faser ihres Körpers. Wie sollte sie ruhig sein, wenn sogar er –
Cedric!
– sich fürchtete?
Noch einmal holte Cedric Luft, und sein Gesicht entspannte sich ein wenig. Dann lehnte er sich vor und legte seine Stirn gegen Freis. »Doch, du kannst«, sagte er eindringlich. »Du musst, Frei. Schnell. Sprich mir einfach nach: Sag mir alles, was du über Red September weißt!«
Frei schluckte mühsam. Cedrics flacher Atem streifte ihre Haut. Sie konnte es. Er hatte es gesagt.
»Sag mir alles, was du über Red September weißt!«, flüsterte sie.
Und dann war es, als hätte sich eine Schleuse geöffnet. Die Welt verschwamm vor Freis Augen. Für einen Moment noch sah sie Cedric, sein bleiches Gesicht und die leuchtend gelben Augen. Wie von weit her glaubte sie noch einmal seine Stimme zu hören, aber hinter dem Summen und Vibrieren, das ihren Schädel zu sprengen drohte, schien alles entfernt zu sein. Cedrics Leben pulsierte unter ihren Händen, kribbelte und prickelte ihre Arme hinauf wie eine Armee von tausend Ameisen. Seins – und das dreier fremder Menschen.
Sag mir sofort, was du über Red September weißt!
Cedrics Stimme hallte durch ihren Kopf. Und dann stürzten Bilder in sie hinein, in so schneller Folge, dass sie sie nicht fassen konnte. Ein Haus, Kerzen, ein Graben, Blut, ein enger Schacht und Red, Red, immer wieder Red …
Red, schweißüberströmt auf einem weitläufigen Sandplatz.
Red, an einem Tisch in einer Küche, gemeinsam mit den Menschen, die sie in der Zelle gesehen hatte.
Red, der die Waffe auf einen Vampir richtete.
Red, mit Blut bespritzt.
Red, gelöst und frei lachend.
Red September. In jedem einzelnen Bild. Untermalt von einem wilden Stakkato aus Geräuschen, Wortfetzen
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