Unberuehrbar
und Stimmen.
Frei taumelte, schwankte auf weichen Knien und spürte, wie vertraute Arme sie festhielten. Ihre Wange drückte sich in den weichen Stoff von Cedrics Hemd, das nach Tee roch und ein wenig nach Schweiß. Langsam, ganz langsam schob sich ihre Wahrnehmung wieder in ihre gewohnte Dimension zurück.
»Alles ist gut, Frei. Ich wusste, dass du es kannst. Verstehst du jetzt besser?«
Frei holte zitternd Atem.
Insomniac Mansion.
Victoria Hill.
Ja, sie verstand jetzt. Zumindest etwas.
Doch die Verschnaufpause dauerte nicht lange. Schon schob Cedric sie wieder von sich weg und beugte sich ein Stück herunter, um ihr aufmerksam ins Gesicht zu sehen. »Bist du in Ordnung? Kannst du laufen?«
Frei nickte. Sie fühlte sich schwach und ein wenig taumelig, aber es würde schon gehen. Cedric erwiderte das Nicken und drückte ihr den Rucksack in die bebenden Finger. »Gut. Dann los.«
Er fasste sie am Arm und zog sie quer durch den Wohnraum zum Ausgang – und in diesem Moment hatte Frei das Gefühl, in einem bizarren Déjà-vu zu stecken: Cedric, der sie mit verbissenem Gesicht voranzerrte. Und der Fahrstuhl, der sich in diesem Moment wie von selbst in Bewegung setzte, ohne dass sie oder Cedric irgendetwas getan hätten. Frei hatte das schon einmal erlebt. Nur kam es ihr diesmal unendlich viel bedrohlicher vor. Und diesmal würde sie keine Eingangstür in greifbarer Nähe retten.
Cedric fluchte laut. Frei hatte ihn noch nie fluchen gehört.
Hektisch sah sie sich um. Es musste doch einen Ausweg geben! Ihr Blick fiel auf die Fensterfront. Wenn sie mit voller Kraft dagegen rannte ...
... würde sie aus dem siebten Stock in die Tiefe stürzen. Frei schluckte mühsam. Es würde ziemlich weh tun. So viel war wohl sicher.
Sie sah zu Cedric, im gleichen Moment, als auch er den Blick von der Fensterfront nahm. Er nickte grimmig.
»Sieht aus, als wäre es an der Zeit herauszufinden, wie unsterblich du wirklich bist.«
Frei drückte den Rucksack mit den Blutkonserven fest an ihren Bauch. Die Beutel durften nicht kaputtgehen – sie würdesie vielleicht schon bald sehr dringend brauchen. Also war es wohl am klügsten, sie mit ihrem Körper zu schützen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sie hatte keine Wahl. Und sie würde nicht zögern.
»Bis bald, Cedric«, flüsterte sie.
Ein schwaches Lächeln erschien in Cedrics Mundwinkeln. »Pass auf dich auf.«
Frei nickte und versuchte, das Zittern in ihren Beinen zu ignorieren. Und dann, ohne noch unnötig lange nachzudenken, wie es sich anfühlen mochte, von so weit oben auf den Asphalt zu prallen, rannte sie los. Ein kräftiger Sprung schleuderte sie mit der Schulter voran gegen das Glas. Es splitterte. Klirrte. Tausend Scherben leuchteten im Licht des Sonnenaufgangs auf. Und Frei stürzte.
Im Fallen schien die Zeit sich zu verlangsamen. Wind rauschte in ihren Ohren und knatterte im Stoff ihrer Jacke. Frei klammerte sich an ihren Rucksack. Der Sturz drückte ihren Magen bis hinauf in ihre Kehle, die Welt raste in einem irren Farbrausch an ihr vorbei – und dann schlug sie mit Wucht auf den Boden auf.
Für endlose Sekunden konnte sie ihren Körper nicht mehr spüren. Es war, als schwebte sie in einem weißen Rauschen, in das sich langsam graue Schemen mischten. Schemen, die nach und nach mehr Kontur bekamen, bis Frei sie als die Silhouetten von Vampiren erkennen konnte und das entfernte Dröhnen als Stimmen, die sich aufgeregt unterhielten. Rollsplitt an wunder Haut – das mussten ihre Handflächen sein. Klebrige Fetzen und Schmutz über einem Knochen, der sich quälend langsam wieder zusammenfügte: ihr Schienbein. Doch, sie war noch da, begriff Frei. Diese wunden, zertrümmerten Glieder, das waren ihre, und sie konnte sie bewegen – wenn auch unter Qualen. Sie lebte. Und sie heilte sich.
Allmählich wurden auch ihre Sinne wieder klar. Neben sich bemerkte sie aus dem Augenwinkel den Rucksack mit den Konserven. Blut sickerte in dunklen Flecken in den Stoff. Mindestens ein Beutel musste beim Aufprall geplatzt sein, wahrscheinlich mehr. Frei sah etliche Vampire in einem Pulk um sie herum stehen und weit über sich den blassblauen Morgenhimmel über dem Hochhaus mit der Glasfassade.
Der nun eine Scheibe fehlte. Sonst war nichts zu sehen. Aber Cedric musste dort oben sein! Frei versuchte, sich hinzusetzen, aber ihre Glieder wollten ihr noch nicht wieder gehorchen.
»Bleiben Sie liegen! Ruhig. Alles wird gut.« Die Stimme war ganz nah, aber Frei kannte sie
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