Unberuehrbar
sich irgendwo zu verkriechen oder sich wenigstens im feuchten Laub einzugraben, ehe die Sonne sie erwischte.
Frei schloss erschöpft die Augen und versuchte zugleich mit aller Macht, den Schlaf zurückzudrängen, der sich schwer über sie legen wollte. Wenn sie jetzt einschlief, würde sie niemals mehr rechtzeitig aufwachen, das war ihr nur zu klar.
In diesem Augenblick raschelte es im Gebüsch hinter ihr, und Frei fuhr zusammen. Ein strenger Geruch stieg in ihre Nase, und sie hörte ein trockenes Schnüffeln.
»Mmh. Bingo, alter Junge«, murmelte eine heisere Stimme.
Schritte raschelten im Laub. Der Geruch wurde stärker. Frei kämpfte noch darum, ihren Kopf wenigstens ein Stück weit zu drehen – als sie etwas Hartes grob an der Wirbelsäule traf. Ein Wimmern glitt über ihre Lippen, ehe sie es verhindern konnte, und sie spürte, wie mehr Blut in ihren Pullover sickerte.
»Noch nicht tot? Wow. Jackpot.«
Ein Gesicht tauchte über ihr auf. Das Gesicht eines fremden Mannes unter einem siffigen Schlapphut, schmutzig und unrasiert. Strähnige Haare hingen in seine Stirn und in einem zotteligen Zopf über seine Schulter. Die Spitze des Zopfes wischte über Freis Wange und ihre Nase, als der Fremde sich noch ein Stück weiter vorbeugte, um sie genauer zu inspizieren – und mitten in der Bewegung erstarrte, als sein Blick Freis traf.
»Ja, da hol mich doch der Sonstwer.« Der Mann pfiff leise durch die Zähne. »Du bist ja schon ewig und drei Tage kein Mensch mehr!« Er schnaufte fassungslos – und ganz offensichtlich auch recht enttäuscht. »Mmh. Verflixte Kiste. Was machst du denn hier, Püppi?«
Frei schluckte mühsam. Wer auch immer dieser Vampir sein mochte, er war vielleicht ihre letzte Rettung. »Hilfe«, brachte sie heraus. Das Wort kratzte unangenehm in ihrer Kehle. »Blut …«
Der Fremde lachte trocken und tippte sich an die Krempe seines Schlapphuts. »Ja, Süße. Das hätte ich auch gern, mmh, das kannst du mir glauben. Verflixt, verflixt.«
Ein kurzes, scharfes Bellen ertönte, das Frei zusammenzucken ließ. Ein Hund!
Der Fremde richtete sich auf. Sein Gesicht verschwand aus Freis Blickfeld.
»Was? Ach so …!« Seine Stimme nahm einen versöhnlicheren Klang an, gemischt mit etwas, das Frei von sich selbst nur zu gut kannte. Hunger. Und ungestillte Gier. »Mmh, jetzt versteh ich. Wir haben gar nicht dich gerochen, mmh. Du hast da einen Schatz bei dir. Na dann lass mal sehen.«
Eine sehnige Hand mit langen, spinnenbeinartigen Fingern packte Freis Rucksack und zog daran. Kaltes Begreifen durchzuckte Frei. Der Mann hatte nicht die geringste Absicht, ihr zu helfen! Er würde ihre Konserven nehmen und ihr Geld und sie hier liegenlassen, wenn sie nichts dagegen unternahm. Mit aller verbliebenen Kraft klammerte sie sich an den Rucksack und fauchte wütend.
Die Hand zuckte augenblicklich zurück. »Schon gut, schon gut! Hab’s kapiert. Nicht beißen, ganz ruhig.«
Schritte raschelten. Kurz darauf konnte Frei den Mann wieder sehen. Und seinen Hund. Einen struppigen Köter mit verfilztem schwarzem Fell, der leise knurrte, als Freis Blick ihn traf. Der Fremde hockte sich vor sie hin und musterte sie aus schmalen, listigen Augen. Er stank. Nein, Gestank war noch zu freundlich ausgedrückt für den Moder aus säuerlicher Fäulnis und Verwesung, den er verströmte. Frei wurde allmählich übel davon.
»Du bist ganz schön fertig, was? Hast so viel Blut und kannst es nicht trinken. Aber ich sag dir was, wenn du hier liegenbleibst, dann hast du bald sowieso nichts mehr davon.«
»Hau ab«, zischte Frei und umklammerte den Rucksack noch fester.
Der Fremde seufzte, schob den Hut ein Stück zurück und kratzte sich am Kopf. Hinter seiner Stirn schien es zu arbeiten.»Hör mal, Püppi«, sagte er schließlich gedehnt. »So wird das nichts mit uns beiden. Weißt du,
mir
macht das Sonnenlicht nichts aus. Ich könnte einfach warten, mmh, bis du verbrutzelt bist. Aber weil ich so’n netter Onkel bin, mmh, schlag ich dir ’nen Deal vor: Ich zeig dir ’nen Platz, wo du dich den Tag über verkriechen kannst, und du gibst mir was von deinem Schatz da. Mmh?«
Frei presste die Lippen zusammen. Sie konnte diesem heruntergekommenen Kerl nicht trauen, so viel stand fest. Von wegen netter Onkel. Und dieser seltsame Sprach-Tick, jedes Mal von einem Zucken des rechten Augenlids begleitet, machte sie irgendwie nervös. Aber sie brauchte Hilfe, sie brauchte Schutz vor dem Sonnenlicht – und allein würde sie es nicht
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