Unberuehrbar
hörte sie endlich etwas. Nein, sie spürte es vielmehr. Oder Kris, der in ihr war und ihre Sinne nutzte, spürte es. Er, der dieses Haus und seinen Atem so viel besser kannte als sie.
Da ist noch jemand.
Er hatte es ausgesprochen, ehe Frei auch nur die Chance hatte, ihre Empfindungen in Worte zu fassen. Sein Misstrauen kehrte zurück. Prickelnd tröpfelte es ihre Wirbelsäule hinab.
Wer ist das?
Frei schüttelte den Kopf, ohne darüber nachzudenken, dass Kris das ja gar nicht sehen konnte. Das Gefühl, dass jemand, dass
mehrere
fremde Personen in ihr Reich eindrangen, war überwältigend, selbst wenn es nicht ihre eigenen Empfindungen waren. Unwillkürlich sprach sie mit gedämpfter Stimme. »Hannah hat von Vampiren gesprochen, die regelmäßig herkommen. Aus Europa. Sie hassen Bluter.«
Endlose Sekunden verstrichen, in denen die Finsternis in ihrem Kopf wuchs und dichter wurde, bis Frei glaubte, darunter ersticken zu müssen.
Verdammt.
Kris klang nun sehr unruhig.
Hör zu, Blue. Ich habe nicht viel Zeit. Ich muss mit Cedric sprechen. Dringend. Kannst du ihn zu mir bringen?
Frei rang verzweifelt nach Luft. Ob sie Cedric
zu ihm
bringen konnte? Aber das bedeutete … Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf.
»Wo bist du?«, flüsterte sie atemlos.
Wieder blieb es etliche Sekunden still. Dann ertönte ein Summen, so intensiv, dass es fast ein Stechen war. Es bohrte sich schmerzhaft in Freis Hirn, und sie unterdrückte ein überraschtes Wimmern, krümmte sich und presste ihre Hand gegen die Stirn. Was zur Hölle tat er da?
Ich markiere dich, einverstanden?
Als Kris wieder sprach, ließ das Stechen nach. Aber ein unangenehmer Druck blieb zurück, als läge der Dorn noch immer auf der frisch gestochenen Wunde und wartete nur darauf, dass ihn jemand wieder hineindrückte.
Dann kann Cedric mit deiner Hilfe den Weg finden. Er wird wissen, was zu tun ist. Du musst ihn aufsuchen, Blue. Versprich es mir!
Mit aller Kraft klammerte Frei sich an den Fensterrahmen. Übelkeit stieg ihren Hals hinauf, und ihr wurde schwindelig. »Kris …«
Der Druck ließ weiter nach, bis er kaum mehr als ein Streicheln war. Und ebenso sanft drängend klang auch Kris’ Stimme.
Versprich es. Bitte. Sonst kann ich nichts tun.
Frei schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Sie durfte jetzt nicht die Fassung verlieren – und vor allem nicht sich selbst. Es gab nur eins, das wichtig war. Nur
einen
. »Ist Red bei dir?«
Sie spürte Kris zurückzucken – ein Prickeln von einer Intensität, die Frei verwirrte. Endlose Sekunden gab er keine Antwort, und Frei spürte überrascht, dass eine fast schmerzliche Trauer von Kris ausging.
Ja,
sagte er endlich zögernd.
Das ist er.
Das Holz des Fensterrahmens knackte unter Freis Fingern, als sie die Fäuste ballte. »Dann verspreche ich es.«
Erleichterung durchströmte sie wie heißes Wasser, das bis in ihre Finger und Zehenspitzen rann. Und im nächsten Augenblick schlang sich ein unsichtbares Band um ihren Geist, behutsam wie eine lose Schlinge – und doch so fest, dass sie esniemals allein würde abstreifen können. Frei schnappte überrascht nach Luft. Plötzlich konnte sie Kris’ Anwesenheit so deutlich spüren, dass sie ihn beinahe vor sich sah. Die weiße Haut, die schwarzen Augen. Die stille Wehmut in seinem Lächeln. Frei schluckte trocken. So also fühlte sich ein Versprechen an?
Es wird weh tun.
Kris’ Stimme klang behutsam, als wolle er sie schon im Voraus um Verzeihung bitten.
Aber jetzt war es Frei, die lächelte. Was konnte er ihr schon von Schmerz erzählen? Sie hatte sich von Schmerzen noch nie aufhalten lassen. »Tu es einfach.«
Das Lächeln wurde ein wenig heller.
Mein starkes Mädchen. Ich danke dir.
Frei antwortete nicht mehr. Sie atmete ein letztes Mal tief durch und machte sich bereit für das, was kommen würde.
Doch als der Dorn tief in ihren Kopf hineinfuhr, hörte sie kaum, wie sie schrie.
Kapitel Achtzehn
Insomniac Mansion, Kenneth, Missouri
Blue!
Im selben Augenblick, als das Kreischen des Vampirmädchens die Spannung zerriss wie ein überdehntes Gummiband, erstarrte die Zeit zu fast kompletter Reglosigkeit. Hannahs Körper handelte wie von selbst. Sie begriff kaum, was sie tat, ehe sie bereits Eloys Revolver aus seinem Hosenbund gerissen und eine Kugel an seiner Hüfte vorbei in den Bauch des anderen Menschen gejagt hatte. Sie sah noch die Überraschung in Friedrichs Blick, ehe seine Augen dunkel wurden – und dann, unendlich
Weitere Kostenlose Bücher