Unberuehrbar
langsam, fiel er.
Hannah nahm sich nicht die Zeit, zu beobachten, wie sein Körper auf dem Boden aufschlug. Verschwommen nahm sie aus dem Augenwinkel wahr, dass Monsieur de la Rivière an ihr vorbeigestürmt und auf dem Weg die Treppe hinauf war. Sie wirbelte herum und riss die Zeit mit sich, die sich nun beschleunigte, als müsse sie die verlorene Spanne wieder aufholen. Das Donnern des zweiten Schusses ließ die Luft erbeben – im gleichen Augenblick, als eine mentale Faust sie traf und zu Boden schleuderte. Im letzten Augenblick konnte sie ihren Sturz abfangen. Hannah keuchte überrascht, sprang wieder auf die Füße und fuhr herum.
Doch da war nichts mehr.
Gar nichts, außer düsterem Rot und Grau, das formlos auf sie zukroch und eine Woge eisiger Luft vorausschickte. Und eine Stimme, die wie wabernde Schlieren in Hannahs Kopferklang, der pochte, als müsse er im nächsten Moment explodieren.
»Ich habe Sie gewarnt, Miss Blake.« Nun zeichneten sich die Umrisse von Frau Braun geisterhaft zwischen den Schwaden ab. Doch es war nicht die Gestalt der hageren Vampirin, die Hannah kennengelernt hatte. Es war etwas anderes. Etwas Furchteinflößendes, das Hannahs Sinne nicht greifen konnten. Hastig sah sie sich um, versuchte sich zu orientieren, obwohl sie wusste, dass sie keinen Ausgang entdecken würde. Ihr Herz pochte wie rasend. Wo war der Franzose? Hatte sie ihn getroffen? Und wo war Eloy? Hannah konnte ihn nicht sehen oder spüren. Dabei hatte er eben noch so dicht vor ihr gestanden!
Ein Wimmern zu ihren Füßen erregte ihre Aufmerksamkeit. Hannah sah zu Boden – und dort lag Eloy, zusammengekrümmt wie ein Embryo. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und kreidebleich, und aus einer Wunde in seiner Hüfte quoll rubinrotes Blut. Hannah erstarrte. Nein, unmöglich! Sie hatte ihn nicht getroffen, sie hatte an ihm vorbeigeschossen! Oder …?
Eine eiskalte Hand legte sich um Hannahs Kehle und drückte ihr die Luft ab. »Eloy«, flüsterte sie bestürzt. »Du …«
»Sie haben Angst vor mir.«
Frau Brauns nüchterne Worte rissen Hannahs Aufmerksamkeit wieder an sich. Sie ballten sich wie ein lästiger Klumpen in ihren Eingeweiden zusammen. Der Schweiß brach ihr aus, und sie begann zu zittern. Angst. Ja, die hatte sie.
Sie riss den Revolver in die Höhe und richtete ihn auf die formlose Gestalt vor ihr. »Verschwinden Sie aus meinem Kopf!« Ihre eigene Stimme klang schrill in ihren Ohren. Erbärmlich. Und das war sie. Erbärmlich, unwürdig. Ein unbedeutender Wurm. Sie hatte Eloy erschossen …!
Sie spürte ein Lächeln, schmal und voller Genugtuung. »Es ist doch lächerlich, mit diesem Ding auf mich zu zielen. Siesind zu schwach. Sehen Sie, Sie können die Waffe nicht einmal in Form halten.«
Entsetzt starrte Hannah auf den Revolver. Vor ihren Augen verflüssigte sich das Metall und lief zwischen ihren Fingern hindurch, tropfte zischend zu Boden.
Es ist nicht wahr,
versuchte sie sich zu beruhigen, versuchte durch die Illusion hindurch den Griff ihrer Waffe zu fühlen, den Abzug unter ihren Fingern. Aber da war nichts. Gar nichts.
Das ist alles nicht wahr!
Hektisch ließ sie ihre Gabe durch ihren Arm in das Metall fließen, um es in seine Form zurückzuzwingen. Aber stattdessen floss es nur noch schneller auseinander.
»Ah, nein. Lassen Sie das. Sie schaden sich doch nur selbst. Sagen Sie, wie hoch ist doch gleich die Schmelztemperatur von Stahl?« Frau Brauns Stimme vibrierte triumphierend in Hannahs Kopf. Hannah glaubte, nicht atmen zu können. Das flüssige Metall begann zu glühen. Es verbrannte sie, fraß sich durch Haut und Muskeln bis auf die Knochen. Im nächsten Moment ging der Ärmel ihres Pullovers in Flammen auf. Hannah schrie erschrocken auf. Panisch streckte sie ihren Arm so weit von sich weg, wie sie konnte, aber das Feuer kletterte immer weiter hinauf, bis es ihre Haare erreichte. Beißend süßlicher Brandgeruch drang in ihre Atemwege. Sie röchelte und keuchte, schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen – vergeblich. Das Feuer verbrannte sogar ihre Gedanken, bis nichts mehr übrig war außer Hitze und Qual. Ihre Beine zitterten, drohten nachzugeben. Schwarze Flecken tanzten vor ihren Augen, und sie hörte Carina Braun höhnisch lachen. Hannah griff sich an die Kehle. Sie durfte nicht ohnmächtig werden! Selbst wenn das Feuer eine Illusion war – ein unsterblicher Körper nützte wenig, wenn der Geist überzeugt war, tot zu sein …
In diesem Augenblick erschütterte ein
Weitere Kostenlose Bücher