Unberuehrbar
enthielt weniger Relacin, so dass es sehr viel länger dauerte, bis die Wunde sich schloss. Aber das war nicht das Schlimmste daran. Das Schlimmste in Reds Augen war, dass er Chase einfach nicht als Vampir sehen konnte. Und von dem Chase, mit dem er über Monate hinweg gemeinsamtrainiert und gejagt hatte, in den Hals gebissen zu werden, war schlicht und ergreifend ein völlig absurder Gedanke.
Zum Glück dauerte es dieses Mal wirklich nicht lange. Chase nahm nur einen einzigen Schluck, den er sehr langsam seine Kehle hinunterfließen ließ. Dann runzelte er skeptisch die Stirn.
»Und?« Red hob spöttisch die Brauen und wischte Reste von Blut und Speichel von seiner Schulter. »Ist es nun komisch, oder nicht?«
Chase schüttelte langsam den Kopf. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. »Nein«, erklärte er endlich. »Nicht, soweit ich das beurteilen kann. Ich schätze, Kris wird allmählich ein bisschen paranoid.« Er zögerte kurz. »Er ist sowieso seltsam drauf in letzter Zeit.«
Red hob überrascht die Brauen. Mit so einer ernsthaften und direkten Antwort hatte er tatsächlich nicht gerechnet. »Was meinst du damit: seltsam?«
Chase hob die Schultern und wandte sich ab. »Wie ich’s gesagt habe – seltsam. Los, komm. Wir sehen nach, was er treibt.« Und ohne noch auf eine Reaktion von Red zu warten, wandte er sich ab und verschwand in der Burg.
Red seufzte. Hatte er sich gerade noch über die ehrliche Reaktion auf seine Frage gefreut? Er hätte es besser wissen müssen. Das war mal wieder so typisch. Und natürlich war es völlig sinnlos, jetzt auf einer Erklärung zu beharren, das war ihm nur zu klar. Er würde sich nur vor Chase lächerlich machen und trotzdem nichts aus ihm herausbekommen.
Schweigend folgte er seinem Freund ins Innere der Ruine, wo auch Kris warten musste. Und außerdem, so hoffte Red, wenn schon keine Antworten, dann doch wenigstens ein Bett, saubere Kleidung und ein bisschen Ruhe. Und, sobald er seine Gedanken etwas geordnet hatte, auch eine Idee, wie er vonnun an mit Elizabeth umgehen sollte. Ihr letzter Kuss glühte noch immer in ihm nach, aber er konnte sich einfach nicht entscheiden, ob ihm das gefiel oder nicht.
Und erst jetzt, während er hinter Chase den düsteren Treppenschacht hinaufstieg, wurde ihm bewusst, dass der Vampir sich mit keinem Wort nach dem Menschenmädchen erkundigt hatte.
Kris lag auf dem Bett, als sie das Zimmer betraten. Er hatte sich lang auf den schäbigen Polstern ausgestreckt und die Augen geschlossen. Seine glatten Züge waren gelöst, und seine weiße Haut schimmerte im grauen Licht. Er regte sich nicht, als Red und Chase sich näherten, und wären nicht die gleichmäßigen Atemzüge gewesen, man hätte ihn für eine lebensgroße Porzellanpuppe halten können.
Red blieb vor dem Bett stehen und sah auf seinen Mentor hinunter. Tatsächlich, dachte er erstaunt, hatte er Kris bisher noch niemals schlafend gesehen. Es war ein befremdliches Bild, fast, als wäre das jemand völlig anderer, der da vor ihm lag. Es schien nicht richtig zu sein, dass er sich nicht rührte, wenn sich ihm jemand näherte – das war nicht der Kris, den Red kannte. Seltsam, hatte Chase gesagt. Vielleicht gehörte dies auch dazu.
Neben sich hörte er Chase leise seufzen.
»Was ist mit ihm?« Unwillkürlich dämpfte Red die Stimme, obwohl es doch unwahrscheinlich war, dass seine Worte Kris aufwecken würden, wenn es schon ihre Schritte nicht geschafft hatten.
Chase zuckte die Schultern. »Er ist ein Idiot, nichts weiter. War klar, dass er pennt, wenn man ihn braucht.« Er klang unzufrieden.
Red hob die Brauen. »Dann weck ihn doch.«
Chase schnaufte missbilligend. »Den kriegen wir so schnellnicht wach.« Er zog sein Messer aus dem Halfter an seinem Oberschenkel. Und ehe Red überhaupt die Chance hatte, zu begreifen, was Chase da tat, hatte er die Klinge bereits an Kris’ Wangenknochen angesetzt und einen tiefen Schnitt bis hinunter zu seinem Mundwinkel gezogen. Dunkelrotes Blut quoll hervor und rann über Kris’ Hals, ehe es in seinem Kragen versickerte. Aber Kris rührte sich nicht. »Siehst du?«
Red schnappte nach Luft. »Chase!«
Chase schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Idiot«, wiederholte er leise und beobachtete aus schmalen Augen, wie sich die Wunde innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder schloss.
Auch Red starrte auf Kris hinunter, ohne den Blick abwenden zu können, selbst als der Schnitt längst ohne eine Spur wieder verschwunden war.
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