Unberuehrbar
Elizabeth kurz nach Red das Haus verlassen hatte, kein Auge mehr zugetan. Nun saß sie am Küchentisch vor einem Becher Tee, die Haare noch vom Schlaf zerwühlt und mit tiefen Ringen unter den Augen. Die Decken, zwischen denen Red in der Nacht geschlafen hatte, hatte sie bereits weggeräumt, den Whisky zurück in den Schrank gestellt und die Gläser gespült. Die Küche sah aus, als wäre niemals ein ungewöhnlicher Fremder hier gewesen, den Elizabeth in den Bergen aufgegabelt hatte. Aber das allein hätte Elizabeth nicht noch mehr aus der Fassung bringen können, als sie es ohnehin schon war.
Was – oder besser wer – sie starr wie eine Salzsäule in der Küchentür stehen ließ, war der junge Mann, der Morna gegenüber saß und sich in diesem Augenblick zu ihr umdrehte. Klare graue Augen musterten sie eindringlich aus einem kantigen Gesicht, das eine deutliche Ähnlichkeit zu Mornas nicht verleugnen konnte.
»Guten Morgen, Lizzy!«
Colin.
An jedem anderen Morgen hätte Elizabeth sich über den Anblick von Mornas älterem Bruder gefreut. Aber nicht heute.Denn sein sorgenvolles Gesicht machte ihr in Sekundenschnelle viel zu deutlich bewusst, wie sehr sich ihr Leben, ihr ganzes Denken und Fühlen in nur so wenigen Stunden verändert hatte. Colin, der nicht nur einer ihrer engsten und ältesten Freunde war – so lange Elizabeth sich erinnern konnte, hatte festgestanden, dass sie einmal ein Paar würden. Jeder in Kinlochliath wusste das, und auch für Elizabeth selbst hatte diese Tatsache nie in Frage gestanden, obwohl, abgesehen von gelegentlichen sanften Küssen und geschwisterlich innigen Kuscheleinheiten, bisher nichts zwischen ihnen geschehen war. Irgendwann würde es so kommen. Sie würden heiraten. Kinder bekommen. Gemeinsam alt werden. Eine vertraute, sichere Zukunftsvision, die Elizabeth im Großen und Ganzen keineswegs unangenehm war.
Aber jetzt war Red aufgetaucht, und ihre wildesten Träume von einem freien Leben außerhalb ihres geschützten Tals sprudelten über. Red war so anders als alles, was Elizabeth kannte; faszinierend, weil er den geheimnisvollen Unbekannten glich, von denen in Romanen erzählt wurde. Weil er auf den ersten Blick so düster und geradezu gefährlich wirkte – und doch eine so klare, fast schutzbedürftig wirkende Facette zu besitzen schien, die nur ganz schwach unter all dem Mysterium schimmerte, das ihn umgab. Die von der Tatsache, dass er mit Vampiren so vertraut war, unangetastet blieb. Es reizte Elizabeth fast unwiderstehlich, diese verborgene Seite hervorzulocken, in der dummen Hoffnung, ihn dann für sich gewinnen zu können, wie es auch die Romanheldinnen fertigbrachten. Sie war so voll von seiner Gegenwart und seinem Kuss, der immer noch auf ihren Lippen brannte, dass sie glaubte, platzen zu müssen.
Und in diesem Zustand konnte sie Colins Anwesenheit einfach nicht ertragen. Sie warf Morna einen scharfen Blick zu.Dass ihr Bruder gerade heute Morgen hier auftauchte, war ganz bestimmt kein Zufall. Aber Morna kümmerte der Vorwurf offenbar herzlich wenig.
Elizabeth holte angestrengt Luft. »Guten Morgen«, brachte sie mühsam heraus.
»Wo ist er hin?« Eine tiefe Falte war auf Mornas Stirn erschienen.
Elizabeth hob zögernd die Schultern. Es hatte keinen Sinn, zu versuchen, sich herauszureden. Sie konnte Morna nicht anlügen und auch Colin nicht, dafür kannten sie sich viel zu gut. Sie konnte höchstens versuchen, es zu verschweigen. Und selbst das fühlte sich schlecht an. Sehr schlecht.
»Ich weiß nicht«, sagte sie stockend – aber immerhin wahrheitsgemäß. »Ich habe nicht gesehen, wo er hingegangen ist. Er sagte … er hielte es für keine gute Idee, weiter bei uns zu wohnen.«
Morna schnaufte leise. Es klang ein wenig erleichtert. »Gar nicht so dumm von ihm.«
Elizabeth presste die Lippen zusammen und schwieg. Stumm streifte sie ihre Jacke ab und hängte sie über die Stuhllehne, wobei sie versuchte zu verbergen, dass ihre Finger immer noch leicht zitterten.
Aber sie sahen es. Natürlich sahen sie es beide. Und zu Elizabeths Glück verstanden sie es falsch.
Colin schob seinen Stuhl zurück und stand auf, um sie in den Arm zu nehmen. Sein Geruch, der Elizabeth schon so oft ein Gefühl der Geborgenheit geschenkt hatte, hüllte sie ein, so vertraut, dass ihr das Herz weh tat. »Lizzy, was ist denn los mit dir?«, fragte er sanft. »So verschreckt kenne ich dich gar nicht.«
Elizabeth schluckte mühsam und legte widerstrebend die Arme um seine Hüfte.
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