Unberuehrbar
Sie wusste, warum er hier war. Sie wusste es sogar ganz genau. Er war hier, weil Morna sich Sorgen umsie gemacht hatte, und ganz sicher hatte sie ihm alles erzählt. Natürlich machte er sich nun auch Sorgen um sie. Und wenn sie wollte, dass die beiden damit aufhörten, dann musste sie es schaffen, sich endlich zusammenzureißen.
»Schon gut«, murmelte sie an Colins Brust. »Ich bin nur … irgendwie verwirrt.«
Endlose Sekunden noch ertrug sie die Umarmung, während Colin ihr behutsam über den Kopf strich. Dann machte sie sich los und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
Morna goss ihr einen Becher Tee ein, während Colin sich neben sie setzte und seinen Stuhl dicht an Elizabeths rückte.
»Na, komm, trink erstmal etwas Warmes.« Morna lächelte aufmunternd. In ihren Augen glaubte Elizabeth einen leisen Zweifel zu sehen, den sie jedoch rigoros unter ihrem Optimismus verbarg. »Es ist ja nun vorbei. Du wirst sehen, bald kommt dir das alles nur noch wie ein komischer Traum vor. Mir geht es jetzt schon so, ehrlich gesagt. Eine irre Geschichte, wirklich.«
Schweigend schüttete Elizabeth etwas Milch in ihren Tee und trank einen vorsichtigen Schluck.
»Eins steht jedenfalls fest«, erklärte Colin und griff nach Elizabeths Hand. Seine Finger waren rau und schwielig und ein bisschen feucht. Ganz anders als Reds, dessen Hände zwar auch kräftig, aber trocken und warm und ohne Risse waren. Ohne Schwielen, die sich wie Schmirgelpapier anfühlten … Elizabeth schluckte.
Colin sah ihr in die Augen und lächelte. Doch das Lächeln spiegelte sich in seinem Blick nicht wider, und Elizabeth wusste, auch ihn hatte sie noch nicht überzeugt. Sie sah Angst, die das helle Grau seiner Augen verdunkelte; Angst davor, dass sie sich von ihm zurückzog. Berechtigte Angst, wie sie zugeben musste.
»Ich werde dich von jetzt an ganz bestimmt nicht mehr alleinin den Bergen herumlaufen lassen.« Colin lachte, aber es klang nicht so herzlich, wie sie es von ihm gewöhnt war. »Wer weiß, was für Gestalten sich da noch herumtreiben.«
Elizabeth wusste, sie hätte mitlachen sollen. Aber das hätte ihr niemand geglaubt. Mit Mühe brachte sie ein Lächeln zustande. »Ich denke, der Vorrat an finsteren Gestalten in den Bergen ist erstmal für die nächsten fünfzig Jahre aufgebraucht.« Ein wenig zu hastig stand sie auf. »Ich bin jedenfalls völlig fertig. Ich muss mich ein bisschen hinlegen.«
Morna hob skeptisch die Brauen. »Na klar, ruh dich aus. Colin bleibt noch eine Weile hier, und ich bin in der Brennerei, wenn du mich brauchst. Melde dich, wenn etwas ist, ja?«
Elizabeth nickte schnell. »Sicher. Mir geht es gut, ehrlich.«
Nur wie gut
, dachte sie, das durfte keiner ihrer beiden Freunde wissen. Sie zwang sich, Colin einen Kuss auf die Wange zu geben. Dann wandte sie sich hastig ab und verließ die Küche, um die Leiter hinauf auf den Dachboden zu klettern, wo ihre Schlafkammer lag. Sie wusste, dass ihre Freunde ihr noch immer besorgt nachsahen. Aber mit etwas Glück würden sich diese Zweifel über den Tag zerstreuen. Und bis zum Abend würde Elizabeth sich schon so weit zusammenreißen können, um sich trotz allem halbwegs normal zu benehmen, so dass Colin wie jeden Freitagabend beruhigt mit seinen Freunden in den Pub gehen könnte.
Zumindest hoffte sie das.
Denn nach Anbruch der Dunkelheit würde sie Red wiedersehen. Und diesmal durfte wirklich niemand etwas davon bemerken.
Kapitel Sieben
46 West Street, Kenneth, Missouri
Als Cedric die Augen aufschlug, fiel dämmriges Abendlicht in die Wohnung. Durch die zerbrochene Fensterscheibe trieben kühle Luft und die Geräusche der langsam erwachenden Stadt herein. Dicht neben seinem Gesicht erkannte er einen Fuß des Flügels.
Mühsam drehte er den Kopf. Nur einen Schritt entfernt, so nah, dass ihre Fingerspitzen sich beinahe berührten, lag Dorian. Seine Augen waren weit geöffnet, und er starrte blicklos ins Leere. Ein Speichelfaden rann aus seinem Mundwinkel und versickerte im Teppich. Zwischen seinen Fingern hing noch ein Büschel von Cedrics Haaren.
Cedric schloss die Augen und tastete nach seinen inneren Barrieren. Sie waren wieder da, vollständig und ohne Riss, aber noch dünn und weich wie die Haut eines Säuglings. In diesem Zustand hätte er kaum die Chance, auch nur gegen einen Jungvampir zu bestehen. Sein Körper fühlte sich bleischwer und zerschlagen an. Seit Jahrhunderten war Cedric der Menschlichkeit nicht mehr so nahe gewesen.
Mühsam richtete er sich
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