Unberuehrbar
Eigentlich hätte er sich am liebsten direkt neben ihn gelegt und auch eine Stunde Schlaf nachgeholt. Oder zwei. Aber etwas hielt ihn davon ab. Es war seltsam, dachte Red, eine so verwundbare Seite an dem Vampir zu sehen, der ihm zuvor immer so unantastbar erschienen war. Der Gedanke war nicht angenehm. Überhaupt nicht.
»Irgendwas stimmt doch mit ihm nicht«, murmelte er. »Erklär’s mir.«
Chase warf ihm aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zu. »Ich kann es dir nicht erklären. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er es könnte. Er ist … irgendwie finsterer als sonst. Als ob er manchmal nicht ganz da ist.« Er hob leicht die Schultern. »Ist wahrscheinlich gar nichts – abgesehen davon, dass er müde ist und dich mit mir teilen muss. Mach dir keinen Kopf.«
Einen Moment noch sah Red auf den schlafenden Kris hinunter. Dann wandte er sich entschlossen ab. Er wollte nicht länger darüber nachdenken, was mit Kris nicht stimmte. Er hatte genug eigene Sorgen, über die er sich das Hirn zermartern konnte, und davon einmal abgesehen, war ihm danach,sich mitsamt seiner Kleidung einfach in den See fallen zu lassen, ganz gleich, wie kalt der sein mochte. Es war Ewigkeiten her, dass er zuletzt ein Bad genommen hatte, und allmählich war der Punkt erreicht, dass er es nicht mehr ertrug, so dreckig und verschwitzt zu sein.
Chase sah ihm überrascht nach. »Wohin gehst du?«
Red verharrte auf der Türschwelle und sah über die Schulter zurück. »Mich waschen«, erklärte er. »Damit hier wenigstens einer von uns halbwegs menschlich bleibt.«
Chase lachte trocken. »Guter Punkt.«
Red antwortete nicht mehr. Er wusste, Chase glaubte ihm nicht, dass das der einzige Grund war, warum er aus der Kammer floh. Und natürlich stimmte das. Der wahre Grund war ein seltsamer Druck, der auf seiner Brust lastete, seit sie am Ufer der kleinen Insel gelandet waren. Red konnte ihn selbst noch nicht richtig erklären – und diese Ratlosigkeit war vielleicht das Schlimmste daran. Er war nur froh, dass Chase sich inzwischen mit einer Konserve auf die Fensterbank hockte und keine Anstalten machte, sich ihm anschließen zu wollen.
Er schloss die Tür ein wenig zu laut hinter sich.
Kapitel Sechs
Kinlochliath, Schottland
Elizabeth konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so früh im Dorf unterwegs gewesen war, dass außer ihr noch kaum jemand auf den Beinen war. Hinter einigen Fenstern brannte schon Licht, und der leichte Duft nach frischgebackenem Brot hing in der Luft, als sie den Marktplatz überquerte. Aber sonst war Kinlochliath bis auf das leise Plätschern und Gurgeln des Flusses, der den Ort in zwei Hälften teilte, noch schläfrig still.
Vor dem Gartentor des Hauses, das sie mit Morna bewohnte, blieb sie stehen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, fühlte sie sich noch keineswegs in der Lage, ihrer besten Freundin halbwegs gefasst gegenüberzutreten. Ihr ganzer Körper fühlte sich leicht an und seltsam flatterig, und ein leises Zittern setzte sich beständig von ihrer Magengrube bis in ihre Fingerspitzen fort. Wie um alles in der Welt sollte sie Morna da glaubwürdig versichern, dass Red fort war? Denn das war er nicht. Ganz und gar nicht. Er meinte sein Versprechen ernst, das hatte sie in seinen Augen gesehen. Sie würde ihn wiedertreffen. Beim bloßen Gedanken daran prickelte Elizabeths Haut, als würde ein Schwarm Ameisen darüber laufen.
Hinter den Mauern der anderen Häuser war inzwischen das Leben ihrer Bewohner zu hören: Emma Dunlop versuchte mit sich überschlagender Stimme, ihren zweijährigen Sohn Dylan davon abzuhalten, sein Frühstück durch die Küche zu werfen, während seine Schwester Cassia lautstark verkündete, dass sie auf keinen Fall das grüne Kleid anziehen würde. Der zahnloseMr. Hobbes übte schon frühmorgens auf seiner Geige, die noch viel älter war als er selbst. Und Peps, Cassias schwarze Katze, saß auf einem Zaunpfahl und beobachtete Elizabeth aus golden blinzelnden Augen. Nicht mehr lange, dachte Elizabeth, dann würden sich die ersten Türen und Fenster öffnen. Sie konnte hier nicht stehen bleiben. Nicht, wenn sie nicht der ganzen Nachbarschaft erklären müssen wollte, warum sie um diese Uhrzeit schon unterwegs war. Sie schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. Dann öffnete sie das Tor und ging ins Haus.
Morna war bereits wach. Selbstverständlich war sie wach. Elizabeth hatte nichts anderes erwartet. Morna hatte einen leichten Schlaf, und vermutlich hatte sie, seit
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