Unbescholten: Thriller (German Edition)
stimmte nicht ganz. Ein Teil von ihr wollte, und ein anderer Teil konnte einfach nicht Nein sagen.
Er hatte auf der Brücke des Schiffs gestanden, und obwohl sie nun wusste, was er alles getan haben sollte, erfüllte sein Anblick sie mit Ruhe. Es schien, als wüsste er genau, was sie brauchte.
Das Boot war breit und offen und hatte ein blaues Sonnendach. Bertram 25 , stand an der Bordwand.
Sie machten die Leinen los, der Schiffsmotor brummte, und Hector steuerte sie durch den engen Kanal. Sophie blickte zum Ufer zurück und sah einen Volvo, in dem ein Mann saß.
Als sie den Kanal verlassen hatten, erhöhte Hector das Tempo, und sie fuhren schneller über das glatte Wasser, während die Sonne heiß auf sie herabschien.
Nach einer Viertelstunde drosselte er das Tempo und lenkte das Boot in eine einsame Bucht. Er warf den Anker und schaltete den Motor aus. Das Wasser gluckste gegen den Rumpf, ein Segelschiff fuhr ein Stück entfernt vorbei, die Menschen an Bord winkten ihnen zu, und Sophie winkte zurück.
»Du hast gesagt, du wolltest mir etwas zeigen?«, fragte sie.
Hector überlegte einen Augenblick. Er stand auf, öffnete eine Sitzbank und nahm eine Tasche heraus. Darin waren zwei alte Fotoalben aus Leder, ein dunkelgrünes und ein dunkelbraunes mit Goldkante. Er setzte sich neben sie.
»Du wolltest doch mehr über mich wissen, hast du gesagt.« Er schlug die erste Seite des grünen Albums auf. Es waren Aufnahmen aus den Sechzigerjahren, die Bilder zeigten ein gut gekleidetes Paar vor der Spanischen Treppe in Rom.
»Das ist mein Vater Adalberto, den du kennengelernt hast. Und neben ihm, das ist meine Mutter Pia.«
Pia sah glücklich aus, sie schien voller Energie und Lebensfreude. Und Adalberto mit seinem dichten schwarzen Haar strahlte Stolz und Zufriedenheit aus.
Hector blätterte weiter. Er zeigte ihr Fotos von seinen Geschwistern und sich selbst als Kind und erzählte von seinen ersten Jahren. Davon, wie er in Südspanien aufgewachsen war, von der Einsamkeit nach dem Tod seiner Mutter, von dem Verhältnis zu seinem Vater, er sprach über das Verdrängen und über Beziehungen im Allgemeinen.
Dann deutete er auf ein Bild, das ihn als Zehnjährigen mit seinen beiden Geschwistern zeigte. Sie lachten alle und trugen Indianerfedern auf dem Kopf.
»Mein Bruder und meine Schwester haben mehr aus ihrem Leben gemacht. Sie haben Kinder, sind verheiratet und haben ihren Frieden gefunden.«
Sophie sah Hector an. Sie mochte seine melancholische Art, seine Nachdenklichkeit. Wie passte dieser stille, gefühlvolle Hector zu der Person, die Gunilla ihr beschrieben hatte?
Hector lächelte und blätterte weiter. Er strahlte, als er sich selbst als kleinen Jungen vor einem Baum stehen sah. Ihm fehlte ein Schneidezahn.
»Das war zu Hause in unserem Garten. Ich weiß noch genau, wie das Bild entstanden ist. Den Zahn hatte ich bei einem Fahrradunfall verloren, aber meinen Freunden sagte ich, ich wäre in eine Schlägerei geraten.«
Er lachte und schob das Album auf Sophies Schoß. Dann lehnte er sich zurück, nahm einen Zigarillo aus der Brusttasche und zündete ihn an. Den ersten Zug behielt er einen Moment in der Lunge, bevor er ihn wieder ausatmete.
Sophie blätterte in dem Album und sah einen jüngeren, dunkelhaarigen Adalberto Guzman, der auf einer alten Steinterrasse Zigarillo rauchte, im Hintergrund Zypressen und Olivenhaine. Es gab auch ein paar Bilder von Adalberto und Pia mit damaligen Berühmtheiten. Sophie erkannte Jacques Brel und vielleicht auch Monica Vitti, dazu einen Künstler, auf dessen Namen sie nicht kam. Und dann waren da noch die Bilder von einem Familienurlaub in Teheran Mitte der Siebzigerjahre. Lauter frohe Gesichter, immer wieder Adalberto, Pia und die Kinder, Aufnahmen aus Madrid und Rom, von der Französischen Riviera und aus den Schären. 1981 endete das Album, die restlichen Seiten waren leer.
»Warum hört es hier so plötzlich auf?«
»Meine Mutter starb in diesem Jahr. Danach haben wir keine Fotos mehr gemacht.«
Sie schwieg, und er spürte, dass sie auf eine Fortsetzung wartete.
»Wir waren keine richtige Familie mehr, sondern vier Menschen, die versuchten einfach nur zurechtzukommen. Mein Bruder verzog sich mit seiner Tauchausrüstung unter die Meeresoberfläche, Inez verschwand für mehrere Jahre im Partyleben von Madrid, mein Vater arbeitete, und ich eiferte ihm nach. Vielleicht habe ich den Tod meiner Mutter am schlechtesten verkraftet.«
Er rauchte und schaute in die
Weitere Kostenlose Bücher