Unbescholten: Thriller (German Edition)
mit Rollen und niedriger Rückenlehne heran und setzte sich. Geduldig wartete er, bis Gunilla ihr Gespräch beendet hatte.
Sie kam sofort zur Sache. »Es gefällt mir nicht, solche E-Mails und Anrufe von dir zu bekommen, Lars.«
»Ich darf doch wohl sagen, wie ich mich fühle?« Seine Antwort klang unsicher.
»Wozu?«
Er knetete seine Finger und wich ihrem Blick aus.
»Was willst du, Lars?«
Er schaute auf seine Hände. »Das, was ich dir geschrieben und auf Band gesprochen habe.« Er blickte auf. »Worüber wir gesprochen haben, als du mich eingestellt hast. Ich könnte andere Aufgaben übernehmen … Ich kann Eva mit den Analysen helfen, Szenarien und Vorgehensweisen entwerfen oder Täterprofile erstellen … Was auch immer.«
Er war nervös, während sie ihm ruhig zuhörte.
»Wenn ich das wollte, hätte ich dich schon angesprochen.«
Lars nickte widerstrebend, und Gunilla setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht.
»Darf ich dich etwas fragen, Lars?«
Lars nickte.
»Warum bist du Polizist geworden?«
»Weil ich es wollte.«
Seine Antwort kam viel zu schnell. Gunilla gab ihm eine zweite Chance.
»Weil ich … tja, das ist lange her, weil ich helfen wollte.«
»Helfen wobei?«
»Was?«
»Wobei wolltest du helfen?«
Er kratzte sich am Mundwinkel. Ein Telefon klingelte. Er schaute hinüber, doch Gunilla rührte sich nicht von der Stelle und wartete auf seine Antwort.
»Ja, der Gesellschaft, den Schwachen«, sagte er und bereute es gleich wieder. Gunilla blickte ihn kritisch an. Lars merkte, wie er in immer tieferes Wasser geriet.
»Den Schwachen helfen?«, fragte sie leise.
»Ich wollte ein Teil von etwas Größerem sein.«
Jetzt klang seine Stimme ehrlicher. Sie nickte fast unmerklich, wie um ihn aufzufordern weiterzusprechen.
»Und weil ich etwas verändern und besser machen wollte. Das klingt vielleicht dumm, aber so dachte ich damals.«
»Das klingt nicht dumm, und du tust genau das.«
Er blickte auf.
»Du bist Teil von etwas Größerem, und du tust etwas, um die Gesellschaft zu verändern. Ich wünschte, du könntest das selbst auch so sehen.«
Fragend sah er sie an.
»Wir sind eine Gruppe. Wir arbeiten in einer Gruppe, jeder versucht, etwas beizutragen. Ich bin auch nicht immer glücklich mit meiner Position und würde mehrmals in der Woche mit dir tauschen wollen, wenn ich das könnte. Aber es ist eben, wie es ist, Lars. Wir arbeiten jeder an seinem Platz.«
Sie schwieg einen Moment.
»Wenn du nicht mit uns arbeiten willst, musst du das sagen. Ich bin ehrlich zu dir, und das erwarte ich auch von dir.«
»Ich möchte hier arbeiten«, erwiderte er.
»Ich kann dir weiterhelfen, wenn du das möchtest.«
Er verstand nicht, was sie meinte.
»Wenn du hier aufhören willst, heißt das nicht, dass du nach Husby oder Västerort zurückmusst. Ich kann versuchen, dir einen anderen, besseren Job zu vermitteln.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein … Ich will hier weiterarbeiten.«
Sie musterte ihn. »Dann tu das auch.«
Diesmal lächelte Gunilla nicht ihr kleines Lächeln, mit dem sie sonst jedes Treffen beendete. Sie schaute ihn lediglich an und gab ihm dadurch zu verstehen, dass dieses Gespräch beendet war. Lars nahm sich zusammen, stand auf und ging zur Tür.
»Lars.«
Er drehte sich um. Sie blickte auf einen Computerausdruck.
»Mach das nicht noch mal.«
»Entschuldige«, sagte er heiser.
»Und hör auf, dich ständig zu entschuldigen.«
Er war schon fast zur Tür hinaus.
»Warte«, sagte sie. Sie öffnete eine Schublade, nahm einen Autoschlüssel heraus und hielt ihn ihm hin.
»Du solltest den Wagen wechseln, hat Erik gesagt. Nimm wieder den Volvo, er steht draußen auf der Straße.«
Lars ging noch einmal zu ihr zurück, nahm den Volvo-Schlüssel und verließ das Büro.
Er musste mit jemandem reden und wusste auch genau, mit wem. Er wendete auf der Straße trotz der durchgezogenen Linie.
Wie immer saß Rosie Vinge im Morgenrock auf dem Sofa und sah fern. Lars hatte einen Blumenstrauß dabei, den er auf dem Gang gestohlen hatte. Die Pfleger im Altersheim Lyckoslanten stellten die Blumen der senilen Patienten immer vor den Zimmern ab, damit die Alten sie nicht unbemerkt aufaßen.
Rosie gehörte nicht zur Gruppe der Alzheimerkranken. Mit ihren zweiundsiebzig Jahren war sie eher eine der Jüngeren. Sie gehörte zu denen, die sich aufgegeben hatten.
»Hallo, Mama.«
Rosie sah ihn kurz an, dann richtete sie den Blick wieder auf den Fernseher.
Es war warm im Zimmer.
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