Unbescholten: Thriller (German Edition)
Tabletten gegeben. Er war damals elf Jahre alt gewesen und hatte sich schnell an die Medikamente gewöhnt. Seine Mutter, die einen Arzt kannte, mit dem sie schlief, wenn Papa Lennart nicht zu Hause war, beschaffte ein paar weiße Pillen, die Lars jeden Abend um halb acht ausknockten. Er konnte sich nicht an Träume erinnern und fühlte sich tagsüber seltsam leer, die ganze Schulzeit über ging das so.
Eine Schulschwester entdeckte dann seinen Tablettenkonsum. Sie setzte eine Untersuchung in Gang und versuchte, ihre Empörung zu verbergen, indem sie besonders deutlich mit ihm sprach. Sie erklärte ihm, dass die Tabletten, die er genommen hatte, süchtig machten und sehr, sehr stark waren. Sie fügte hinzu, dass Lars mit Tabletten und anderen wahrnehmungsverändernden Substanzen in Zukunft besonders vorsichtig sein musste. Dass sein Körper eine Abhängigkeit entwickelt hatte, die er nur durch totale Abstinenz würde loswerden können. Lars hatte genickt, ohne ein einziges Wort verstanden zu haben. Er nickte immer, wenn jemand mit ihm sprach.
Aber auch die Abstinenz empfand er als ein gleichmäßig dumpfes Gefühl der Leere. Das Verlangen wurde schwächer, das Zittern und die Stimmungsschwankungen nahmen ab. Aber die Angst blieb, ebenso wie die Schlafstörungen. Sie wurden seine ständigen Begleiter, seine Wirklichkeit.
Er parkte den Wagen vor der Bowlinghalle, wo Bier und Wein verkauft wurden. Lars fand einen Tisch mit Blick über die Bahnen. Eine Gruppe Rentner ließ die Kugel rollen. Lars schaute in seine Handfläche. Sechs Tabletten, drei aus jeder Packung. Er warf sie sich in den Mund und spülte sie mit bulgarischem Rotwein hinunter. Nach wenigen Minuten löste sich der Druck auf seiner Brust, und er wurde entspannter. Er lehnte sich in dem Stuhl zurück und schaute den Bowlingspielern zu. Er freute sich, wenn sie danebenwarfen, und verspürte Unlust, wenn sie trafen.
»Hallo.«
Sara stand neben ihm. Er sah sie fragend an.
Lars wandte sich den Bowlingspielern zu und trank einen Schluck aus seinem Weinglas. Sara setzte sich und versuchte, seinen Blick einzufangen.
»Wie geht es dir, Lars?«
»Gut, warum?«
Sara seufzte leise. »Bitte Lars, können wir nicht reden?«
»Tun wir doch … Tun wir doch gerade – oder reden wir etwa nicht? Unsere Münder bewegen sich.«
Er lächelte seltsam. Sara sah auf ihre Hände hinunter.
»Ich möchte nicht, dass es so ist zwischen uns«, flüsterte sie.
Lars sah Kugeln, die über Parkettbahnen rollten, und Kegel, die umfielen.
»Ich erkenne dich nicht wieder, du bist die ganze Zeit so wütend, du sagst nicht, was los ist … Habe ich etwas falsch gemacht?«
Er schnaubte nur.
»Ich will dir helfen, wenn ich kann. Lars?«
Sie blickte ihn an, um zu sehen, ob ihre Worte ihn erreicht hatten.
»Du bist hier früher immer gewesen«, sagte sie.
Er wich ihrem Blick aus.
»Als wir uns kennengelernt haben, als du angefangen hast, in Västerort zu arbeiten. Da warst du so, wie du jetzt bist … Danach hast du von den Medikamenten erzählt, die du als Kind bekommen hast.«
»Du redest so eine Scheiße.«
»Nein, tue ich nicht«, erwiderte sie.
Ein schlanker alter Mann in einem dünnen Trainingsanzug schlug einen Strike und versuchte sein stolzes Grinsen zu verbergen, als er zu seinen Kameraden zurückging.
»Wir hatten es gut zusammen, Lars«, fuhr sie fort. »Wir hatten eine Beziehung ohne Streit und Missverständnisse. Wir haben die gleichen Interessen gehabt, an das Gleiche geglaubt. Wir haben etwas gefunden …«
Er trank einen Schluck und wich ihrem Blick aus.
»Was glaubst du, was passiert ist?«, fragte sie.
»Nichts ist passiert, außer dass du paranoid bist … und hässlich.«
Sara versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sie verletzte. »Dann möchte ich, dass wir uns trennen.«
Das schiefe Lächeln lag weiter auf seinem Gesicht. »Das haben wir doch schon getan?«
Saras Trauer schlug in Zorn um. Sie starrte ihn an, dann sprang sie auf und lief hinaus. Lars blickte ihr hinterher. Er nippte an seinem Wein und sah zu, wie eine dicke alte Dame ihre Kugel auf die Bahn schob.
Als die Bowlinghalle schloss, fand er einen irischen Pub, der so irisch war wie McDonald’s finnisch: Großbildschirm, elektrische Dartscheiben, Minibasketballkörbe mit albernen Minibasketbällen. Und als Tüpfelchen auf dem i ein iranischer Barkeeper, der schlechtes Englisch sprach und Lars Mate nannte. Aber was kümmerte ihn das? Er war hier, um betrunken zu
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