Unbescholten: Thriller (German Edition)
Rosie hatte ein Fenster gekippt. Er sah, dass sie schwitzte. An ihren Schlüsselbeinen hatten sich Schweißperlen gebildet. Der Fernseher lief in voller Lautstärke, was aber nicht daran lag, dass sie schlecht hörte. Sie verstand nur einfach nichts. Rosie Vinge war ängstlicher Natur. Als ihr Mann Lennart starb, war ihre allgegenwärtige Furcht vor allem und jedem in regelrechte Panik umgeschlagen. Aus Angst vor den Schwarzen, die verstärkt in ihren Stadtteil Rågsved zogen, versteckte sie sich in ihrer Wohnung. Sie fürchtete sich vor dem Brummen des Kühlschranks, hatte Angst, es könnte ein Feuer ausbrechen, wenn sie die Lampen zu lange brennen ließ, und Angst vor der Dunkelheit, wenn sie die Lichter löschte.
Lars hatte nicht gewusst, was er mit ihr anfangen sollte. Eine Weile hatte er überlegt, sie einfach zu vergessen und in ihrer Wohnung verrotten zu lassen, aber sein Gewissen hatte gesiegt, und er brachte sie ins Altersheim. Das war jetzt acht Jahre her. Das Personal stopfte sie mit Beruhigungsmitteln voll, und so saß sie seither da und sah sich im Fernsehen das Nachmittagsprogramm an.
»Wie geht’s?«
Sie lächelte, als wäre das schon Antwort genug, doch Lars wusste nicht, was sie damit meinte. Eine Weile betrachtete er das traurige Bild, das sich ihm bot, dann ging er in die Kochnische, setzte Wasser auf und machte sich eine Tasse Instantkaffee.
»Möchtest du Kaffee, Mama?«
Sie antwortete nicht, das tat sie nie.
Er nahm seine Tasse mit ins Wohnzimmer und setzte sich neben sie auf das Sofa. Im Fernsehen lief eine Quizshow, bei der man anrufen und Fragen beantworten konnte. Der Moderator war jung und sprach gekünstelt.
»Sie verstehen mich nicht bei der Arbeit, Mama«, sagte Lars.
Er trank einen Schluck und verbrannte sich die Zunge.
»Ich glaube, ich bin verliebt«, erklärte Lars plötzlich.
Rosie sah ihn kurz an, dann versank sie wieder in dem Geschehen auf dem Bildschirm. Er hasste es, so neben seiner Mutter zu sitzen, und wusste nicht, warum er es tat. Er wusste nicht, warum er in ihrer Gegenwart regelmäßig wieder zum Kind wurde. Nervös kratzte er sich am Kopf, stand auf und ging in ihr Schlafzimmer.
Dort war es dunkel und stickig, das Bett war nicht gemacht. Lars fing an, in ihren Schubladen zu wühlen; manchmal fand er Geld, das er einsteckte.
Er hatte sie bestohlen, seit er denken konnte, als ob er ständig das Gefühl gehabt hätte, sie wäre ihm etwas schuldig. Doch jetzt fand er kein Bargeld, dafür aber eine Menge Rezepte zwischen ihrer widerlichen Unterwäsche. Er nahm drei davon heraus. Eines sah anders aus als die anderen. Er faltete sie und steckte sie in die Tasche. Dann ging er wieder zu Rosie hinaus.
»Ich werde mit Sara Schluss machen.«
Er sah ihr an, dass sie ihn gehört hatte.
»Du weißt doch noch, wer Sara ist?«
»Sara«, sagte Rosie in einem unbestimmten Tonfall.
»Sie ist dir zu ähnlich«, erklärte Lars.
Rosie starrte weiter auf den Bildschirm. Der Moderator kicherte albern.
»Das Leben ist ein Hamsterrad, es dreht sich bis in alle Ewigkeit. Du hast mir beigebracht, dass Frauen feige sind, Mama … Es ist immer das Gleiche.«
Rosies linke Hand begann in ihrem Schoß zu zittern, und sie fing an zu weinen. Lars fühlte sich, ohne dass er es richtig begriff, erleichtert.
Er verließ das Altersheim und setzte sich ins Auto. Auf dem Karlbergsvägen geriet er in einen Stau, es war Mittagszeit, und es herrschte dichter Verkehr. Er tastete nach den Rezepten in seiner Tasche. Sie waren feucht von seinem Handschweiß. Im Radio spielten sie Hardrock aus den Achtzigern, die Musik gefiel ihm nicht. Ein paar Regentropfen fielen auf die Windschutzscheibe, es war ein leichter, warmer Regen, ohne den kühlenden Effekt, auf den alle warteten. Zu Hause steckte er den Schlüssel ins Schloss. Es war unverriegelt, also war Sara zu Hause. Lars trat in den Flur und zog die Tür leise hinter sich zu. Er schlich in sein Arbeitszimmer, öffnete eine Schreibtischschublade und legte die Rezepte hinein.
Sara saß im Wohnzimmer und schrieb einen Artikel über alleinstehende Künstlerinnen mit schlechtem Einkommen. Die Überschrift lautete »Der sozioökonomische Übergriff«. Schon seit Ewigkeiten widmete sie sich solchen Themen, und Lars konnte einfach nicht begreifen, warum sie sich so darauf versteifte. Wer wollte das denn lesen?
Lars versuchte sich zu erinnern, was er einmal in Sara gesehen, was ihn angezogen hatte. Vielleicht hatte er ja auch nie etwas in ihr gesehen.
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