Unbescholten: Thriller (German Edition)
an dem Foto des Mannes hängen, den Sophie am Strandvägen getroffen hatte. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf umher, sein Konzentrationsvermögen ließ ihn im Stich.
Lars ging ins Bad und legte nach. Er schüttete die Pillen in sich hinein, betrachtete sich im Spiegel und summte »New York, New York« vor sich hin. Seine Wangen waren bleich und schlaff, und er hatte gelbe Pusteln um den Mund – aber ihm gefiel, was er da sah.
Dann kehrte er zu seiner Wand zurück. Seine Beine waren die ganze Zeit in Bewegung, und er knirschte mit den Zähnen wie ein wiederkäuender Elch.
Gab es ein Muster, das er nicht sah? Einen versteckten Code in dem, was er schon an die Wand geschrieben hatte? Hatte er unbewusst eine Chiffre erschaffen, in der die Antwort auf alles lag, was er nur noch nicht verstand? Vielleicht fand sich sogar die göttliche Antwort auf alle Fragen in diesem Chaos an der Wand? Vielleicht gab es da ja auch noch andere Antworten?
Und dann war plötzlich Schluss. Als wäre Ingo Johansson, der Boxliebling seines Vaters, aus seinem Foto geklettert und hätte ihm eine ordentliche Rechte ins Gesicht verpasst.
Lars setzte sich mit vorgerecktem Hals auf den Schreibtischstuhl, unfähig, einen neuen Gedanken zu fassen. Es war ein mentaler Knock-out, das Morphium lähmte sein Gehirn. Ein Speichelfaden hing in seinem Mundwinkel. Er starrte auf seine Beine und sah die Grasflecken auf den Knien seiner Jeans … wie damals, als er ein kleiner Junge war! Lars musste lachen, Grasflecken an den Knien! Die Dosierung war wohl doch zu hoch gewesen. Müdigkeit kroch ihm in den Nacken, über die Schultern und weiter den Körper hinunter, in Brust, Bauch, Beine und Füße – bis in den letzten Winkel seines Körpers. Er rutschte vom Stuhl und landete auf den Knien, fiel vornüber und fing sich mit den Händen ab. Ein jäher Schmerz schoss ihm durch Handgelenke und Unterarme, als er aufschlug.
Er sah einen einzelnen Stecker unter dem Schreibtisch, der nicht eingesteckt war. Lars starrte ihn an. Ein paar verschwommene Assoziationen flackerten durch sein Hirn.
Er legte Tramadol und Oxazepam nach. Eine Überdosis namens Du-schaffst-es . Aber die Dosis versetzte ihn nicht in den erhofften Zustand. Stattdessen spürte er, wie ihn etwas umklammerte. Er konnte sich nicht bewegen, nicht denken, er war schwerer als die Masse eines implodierenden Sterns. Und da tauchte plötzlich Ingo wieder auf. Diesmal riss er irgendeinen Göteborg-Witz, hob die Linke, täuschte kurz an und verpasste ihm dann einen rechten Schwinger aufs Kinn.
Lars wurde schwarz vor Augen.
Das Läuten des Telefons holte ihn aus der geräuschlosen Finsternis zurück. Lars sah auf die Uhr, er musste einige Stunden weg gewesen sein. Wieder hörte er das Telefon, es klang ausdauernd und schrill. Er kniete sich hin. Es läutete weiter. Lars zog sich mühsam am Tisch hoch und kam auf die Füße. Auf unsicheren Beinen wankte er über das Parkett zum Telefon.
»Hallo?«
»Lars Vinge?«
»Ja?«
»Mein Name ist Gunnel Nordin, ich rufe aus dem Altersheim Lyckoslanten an. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Mutter heute früh verstorben ist.«
»Aha … Das ist ja traurig …«
Lars legte einfach auf und ging in die Küche, ohne zu wissen, warum. Vielleicht suchte er etwas. Das Telefon klingelte wieder. Er sah sich um und versuchte sich zu erinnern, was er in der Küche wollte. Das schrille Läuten machte ihn nervös und ärgerlich. Er schaute an die Decke, dann auf den Boden, drehte sich um die eigene Achse. Das Telefon klingelte. Nein, er wusste nicht, wonach er suchte. Wieder nahm er den Hörer ab. »Hallo?«
»Lyckoslanten noch einmal. Gunnel Nordin …«
»Ja?«
»Ich weiß nicht, ob Sie verstanden haben, was ich eben gesagt habe.«
»Meine Mutter ist gestorben.«
Seine Wange juckte, als hätte ihn eine Mücke gestochen. Er kratzte sich hektisch.
»Wollen Sie nicht herkommen? Sie noch einmal sehen, bevor wir sie wegbringen?«
Lars betrachtete seine Fingernägel.
»Nein, nein, es ist gut so. Bringen Sie sie ruhig weg.«
Gunnel Nordin schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: »Ich muss Sie leider bitten, herzukommen und gewisse Dinge zu regeln, ein paar Dokumente zu unterschreiben und die Sachen Ihrer Mutter abzuholen. Ginge es noch diese Woche?«
»Ja.«
»Da ist noch etwas, was ich Ihnen sagen muss …«
»Ja?«
»Ihre Mutter hat sich das Leben genommen.«
»Danke.«
Lars legte wieder auf. Verflucht, wonach suchte er nur? Er öffnete
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