Unbeugsam
hätte teilen können. Ähnlich wie ihr Bruder hatte sie kaum mehr Appetit und nahm stark ab. Um nicht so allein zu sein, beschloss sie, wieder bei ihren Eltern einzuziehen.
Sie veranstaltete einen privaten Flohmarkt, um ihren Hausrat loszuwerden. Sie hatte eine Waschmaschine und einen Trockner, beides rationierte Geräte, die man fast nirgendwo mehr neu kaufen konnte. Eine Frau war daran sehr interessiert, aber Sylvia lehnte ab, sie hoffte, dass sie ihren gesamten Hausrat auf einmal verkaufen konnte. Die Frau bot ihr sofort an, alles zusammen für 1000 Dollar zu übernehmen, nur um an die Haushaltsgeräte zu kommen. Mit dem Wenigen, das ihr noch blieb, zog Sylvia dann nach Torrance um.
Ihren Vater traf sie in derselben Haltung an, die er sich seit dem Eintreffen der Nachrichten über Louie angewöhnt hatte: Kopf hoch, und tapfer lächeln, wenn auch häufig durch Tränen hindurch. Virginia, die daheim |250| lebte und in der Werft Western Pipe and Steel arbeitete, wo Militärschiffe gebaut wurden, war genauso verzweifelt wie Sylvia. Die größte Sorge bereitete ihnen ihre Mutter. Zu Beginn weinte Louise häufig. Dann, als mehr und mehr Monate vergingen, zog sie sich immer weiter in sich zurück. Der nässende Ausschlag an ihren Händen, der fast im selben Moment aufgetreten war, als sie von Louies Verschwinden erfuhr, verschlimmerte sich. Sie konnte keine Handschuhe tragen und nichts mehr mit ihren Händen machen. Sylvia und ihr Vater übernahmen das Kochen.
Sylvia gab ihren Job als Sprechstundenhilfe bei einem Zahnarzt auf und trat eine neue Stelle als zahntechnische Assistentin in einem Militärkrankenhaus an. Sie hoffte, über diese Tätigkeit an Informationen über ihren Bruder zu kommen. Dort erfuhr sie, dass es gerade einen Engpass in der Lieferung von Militärflugzeugen gab, und sie nahm daraufhin noch eine Nebenbeschäftigung an: Jeden Abend bis tief in die Nacht hinein arbeitete sie in der Abteilung für technische Zeichnungen in einer Flugzeugfabrik. Sie stand unter fast unerträglichem Stress. Als sie sich eines Nachts spät auf den Heimweg machen wollte, stieß sie auf eine Gruppe Arbeiter, die unter einem Flugzeug zusammensaßen und Karten spielten. Sie konnte nicht anders, als sie empört anzuschreien, ihr Bruder werde vermisst, Amerika brauche Flugzeuge, und hier säßen sie und vertrödelten ihre Zeit. Sylvia war selbst erschrocken über ihren Ausbruch, doch sie bedauerte ihn nicht. Im Gegenteil: Danach fühlte sie sich besser.
Am 6. Oktober polterte Louies Militärtruhe auf die Schwelle seines Elternhauses, ein schwer erträgliches Geräusch, das einen Endpunkt zu markieren schien. 4 Louise brachte es nicht über sich, die Truhe zu öffnen. Sie ließ sie in den Keller bringen und breitete eine Decke darüber, damit man die Truhe nicht sah. Von dort wurde sie nicht mehr wegbewegt, solange Louise noch lebte.
Alle in der Familie litten, doch gaben sich die Kinder große Mühe, ihre Mutter zu schonen. Sie weinten nie, wenn sie zusammen waren, sondern erzählten einander stattdessen erfundene Geschichten von den Abenteuern Louies auf einer tropischen Insel. Anthony war meistens außerstande, überhaupt über Louie zu sprechen. Sylvia verbrachte viel Zeit in der Kirche, wo sie für Louie und Harvey betete. Manchmal fuhr sie mit Virginia auch nach San Diego zu Pete, und dann gingen sie zusammen auf einen Drink in eine Bar, um sich gegenseitig aufzuheitern. Die Möglichkeit, dass Louie tot sein könnte, blieb immer ausgespart. Wenn Sylvia mit ihrer Familie durch Torrance ging, bemerkte sie die verstohlenen Blicke von Passanten, die die |251| Zamperinis offensichtlich bemitleideten, weil sie der Wahrheit nicht ins Auge schauen konnten.
Jeden Abend schrieb Sylvia einen Brief an ihren Mann. Ungefähr einmal pro Woche schrieb sie an Louie. Es kam ihr darauf an, so zu schreiben, als sei alles in Ordnung; nur über die alltäglichen Vorkommnisse berichtete sie. Harveys Adresse kannte sie; die Briefe an Louie adressierte sie an das Rote Kreuz. Ihrer Mutter sagte sie, sie wolle die Briefe wegbringen, dann stieg sie ins Auto, fuhr zum Postamt und warf sie ein. Danach fuhr sie zur High School. Sie parkte das Auto unter den Bäumen und weinte.
Nachts, wenn sie das Licht gelöscht hatte und allein im Bett ihres früheren Kinderzimmers lag, wurde sie dann häufig noch einmal von Verzweiflung übermannt. Sie konnte nur unruhig schlafen und träumte schlecht. Da sie keine Ahnung hatte, was mit ihrem Bruder
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