Und alles nur der Liebe wegen
Fensterbank los und fiel zwischen die Hunde.
Um die gleiche Zeit stand der Mann mit der Schirmmütze am Telefon eines Gasthauses, das eine Stunde von seinem Haus entfernt war, und sprach mit einem fernen Unbekannten. »Ich habe ein Goldstück hier«, schwärmte er. »Ja! Es ist völlig ungefährlich. Das ist geschenktes Geld! Komm raus, und wir besprechen alles. Sei vernünftig, Charlie. Du hast fünfunddreißigtausend Mark Schulden, und ich habe Wechsel laufen, die in zwei Monaten fällig werden und für die ich noch keinen Pfennig habe. Nun sei kein Frosch, Charlie … Komm heraus und sieh dir den Goldjungen einmal an!« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern hängte ein. Wenig später fuhr er zurück.
Nach drei Tagen endlich gelang es dem Internatsleiter, Lucia Etzel in Köln anzutreffen. Er geriet wieder ganz außer Atem vor Erregung, als er das Verschwinden des Jungen schilderte. Er berichtete, daß die Polizei schon alle Straßen nach Dänemark kontrolliere und man den Ausreißer sicherlich bald fassen werde. »Zurück bringen Sie ihn bitte nicht, gnädige Frau«, sagte der Internatsleiter noch, »wir können uns nicht jede Woche solche Suchaktionen leisten. Im übrigen bitten wir, uns die vollen Pensionskosten zu überweisen, denn der Ferienplatz ist ja nun frei geworden und kann nicht mehr besetzt werden, und wir sind auf die Erfüllung der Pensionsverträge angewiesen, zumal wir als Privatanstalt …«
Lucia ließ den Hörer zurückfallen und starrte vor sich hin. Sie hatte Worte gehört, Sätze, aber sie hatte nur eines verstanden: Peter ist weg! Er ist auf dem Weg nach Dänemark, per Anhalter, zu seinem Vater. Zu dem Vater, den er so vermißte und der jetzt der einzige war, zu dem er Vertrauen hatte.
»Was hast du, Liebling?« fragte der dickliche Beljonow. Er saß im Sessel und trank Wein. »Du siehst aus, als käme heute noch dein Mann zurück. Keine Sorge – ich habe mit ihm gesprochen. Er wird sich scheiden lassen! Und er wird Kavalier genug sein, die Schuld auf sich zu nehmen. Und dann beginnt ein Leben voller Liebe und Kunst.« Er sprang auf, legte die Hand aufs Herz und begann zu singen. »Holdes Mädchen, sieh mein Leiden …«
Lucia fuhr hoch. »Hör auf!« Sie preßte die Fäuste gegen die Ohren. »Hör auf! Peter ist verschwunden!«
Mit einem mißtönenden Laut brach Beljonow die Arie ab. »Wieso verschwunden?« fragte er.
»Er ist aus dem Internat weggelaufen! Er trampt nach Dänemark. O Gott, wenn ihm was passiert …«
»Das ist aber wirklich unangenehm.« Beljonow begriff plötzlich die veränderte Lage. Er hatte den Plan gehabt, gegenüber Etzel den Jugendfreund von Lucia zu spielen und von neu erwachter Liebe zu sprechen, die echt sei, denn er sei ja ein Ehrenmann. Das war nun alles Quatsch. Man mußte Etzel mit einem vollzogenen Ehebruch gegenübertreten, und da war es schwer, auf eine Kavaliersscheidung zu hoffen.
Lucia lief im Zimmer umher und weinte. »Was soll ich tun?« klagte sie immer wieder. »Was soll ich tun? Mein kleiner Peter! Mein lieber, kleiner Peter!«
Beljonow verzog den Mund. Sie hat sich bisher wenig um ihn gekümmert, dachte er, und nun spielt sie die große Tragödin. Das steht ihr gar nicht zu Gesicht. Das ist fast lächerlich. Oder sollte sie jetzt wirklich mütterliche Gefühle haben? So etwas gibt es. In Rußland fressen die Wölfinnen im Winter manchmal ihre eigenen Jungen. Aber wehe, ein anderer Wolf will sie fressen! Er sah Lucia an und nickte. »Telegrafiere nach Dänemark«, sagte er ruhig, »das ist der einzige Weg. Ludwig wird sofort nach Deutschland kommen. Dann verpassen sich Vater und Sohn bestimmt.«
»Du hast eine teuflische Logik«, schluchzte Lucia.
Beljonow zuckte die Schultern, setzte sich wieder und trank einen langen Schluck Wein. Nicht alle Tenöre sind dumm, dachte er. Bei mir sitzt der Geist nicht in den Stimmritzen …
Schon zwei Stunden später klingelte das Telefon. Ferngespräch aus Kopenhagen. Lucia hatte das Telegramm auf gut Glück an die staatliche Planungsstelle geschickt. Auch sie wußte ja nicht, wo sich ihr Mann augenblicklich befand, er und seine schwarzlockige Sekretärin Irene Aurach.
»Was ist mit Peter?« hörte Lucia ganz fern die Stimme Ludwigs. »Dein Telegramm ist gerade gekommen. Wieso ist er weg? Warum läuft er von zu Hause fort?«
»Ludwig.« Lucia sank auf die Couch.
Neben ihr nickte Beljonow ihr Mut zu und streichelte ihren kalten, nervös zuckenden Arm.
»Du mußt sofort kommen, Ludwig! Peter …
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