Und alles nur der Liebe wegen
wenn jeder einsehen mußte, daß es unmöglich war, achtzehn fast erwachsene junge Damen zu beaufsichtigen. Aber im Falle Karin Etzel war es etwas anderes. Karin ragte aus dem Kurs heraus, nicht durch Wissen und Fleiß, sondern durch eine bereits so frauliche Art, daß es ihm manchmal schwerfiel, sie anzuschauen und grob zu sagen: »Setzen Sie sich! Die Quittung werden Sie im Zeugnis sehen!« Gehe ich zur Pension zurück, dachte Dr. Hembach, und forsche nach, ob sie zu Hause ist, oder setze ich mich auf eine Bank an der Promenade und warte die Zeit ab, bis das Konzert zu Ende ist? Dann wird sie ja irgendwo auftauchen, denn sie muß pünktlich im Haus Sonneck sein. Er entschloß sich, auf einer Bank zu warten. Mißmutig ging er zur Uferpromenade, fand einen freien Platz neben einer alten Dame, die alle Melodien mitsummte und manchmal sagte: »Ach ja, ach ja, die gute alte Zeit. Darauf habe ich 1915 Polka getanzt. Und dieser Walzer. Ach ja, ach ja, als junges Mädchen 1915 … Wenn man jetzt die Jugend sieht. Diese kurzen Röcke. Diese schrecklichen grellen Farben. Diese herausfordernde Haltung. Nein, nein …«
Dr. Hembach zuckte zusammen, als er im Strom der langsam Promenierenden am Seeufer auch die blonden Haare Karins sah. Er sprang auf, stieß dabei die alte Dame an, entschuldigte sich mit einer Verbeugung und bahnte sich einen Weg durch die Menschen. Er erreichte Karin kurz vor der Orchestermuschel. Zwei junge Männer in weißen Hosen und blauen Clubjacken sahen sich nach ihr um, blieben stehen und pfiffen leise.
Dr. Hembach strafte sie mit einem bösen Blick, den die jungen Männer jedoch nicht bemerkten. »Toller Käfer«, hörte er im Vorbeigehen, »so etwas nasche ich lieber als einen Whisky.« Idioten, dachte er. Er ging hinter Karin her und holte sie ein. »Karin!« rief er laut. »Einen Augenblick, Karin!«
Karin zeigte keinerlei Erschrecken, als sie hinter sich die Stimme hörte, die ihr so gut bekannt war. Sie blieb stehen und drehte sich um. »Herr Doktor«, sagte sie mit schwingender Stimme. Ihre großen blauen Augen strahlten.
Sie hat sich die Lippen zu rot angemalt, durchfuhr es ihn. »Sie waren nicht im Konzert«, sagte er.
»Nein, ich habe es verpaßt. Ich wollte noch ein paar Karten kaufen, um Bekannten zu schreiben, und als ich zum Kurhaus kam, hatte es schon angefangen. Da wollte ich nicht stören.«
»Ach so. Und was machen Sie nun?«
»Was soll ich tun? Ich gehe spazieren und trinke nachher eine Cola.« Sie lächelte madonnenhaft. »Ich liebe Musik, Herr Doktor. Da, hören Sie? ›Komm in die Gondel, mein Liebling, o steige doch ein …‹ Aus ›Eine Nacht in Venedig‹. Es ist auch wirklich ein zauberhafter Abend.«
»Allerdings.«
Sie gingen zusammen über die Promenade am Seeufer mit den erleuchteten Booten, blieben bei der Kurkapelle stehen und sahen dem Kapellmeister zu, der seine neun Mann dirigierte, als sei er Karajan mit den Berliner Philharmonikern. Sie kamen bei ihrem Spaziergang auch an der Bank vorbei, auf der noch immer die alte Dame saß.
»Nein, so was«, schnaubte sie, »nein, so was! Ein intelligenter Mensch und so ein Flittchen. Diese neue Welt!«
»Ich habe Durst, Herr Doktor«, sagte Karin.
Der schweigsame Dr. Hembach zuckte zusammen.
»Darf ich Sie zu einer Cola einladen? Zu mehr reicht mein Geld nicht.«
»Ich danke für die Einladung, Karin, aber Sie erlauben, daß ich mein Getränk selbst bezahle.«
Kurz darauf saßen sie auf der Gartenterrasse eines Cafés. Junge Leute waren da und schmusten ungeniert miteinander. Sie benahmen sich, als seien sie allein am See.
Dr. Hembach sah Karin an. »Ihr Lippenstift ist viel zu grell«, sagte er leise.
»Sie haben Pastellfarben lieber, Herr Doktor?«
»Ein rosa- oder orangefarbener Lippenstift würde Ihnen besser stehen.« Er starrte Karin an und schwieg dann. »Ich glaube, das ist kein Thema für unser Gespräch«, meinte er schließlich mit rauher Stimme.
»Aber Sie verstehen ja allerhand davon, Herr Doktor, das wußte ich gar nicht.«
Der Kellner kam.
Dr. Hembach sah ihn als rettenden Engel an. »Zwei Cola«, bestellte er.
Der Kellner nickte. Das Übliche, dachte er. Sie enden um Mitternacht in ›Tante Annas Stube‹ beim Sekt. Ferienflirt.
Karin erhob sich und ging ins Café. Dort winkte sie den Kellner heran und gab ihm einen Zwanzigmarkschein. »Servieren Sie dem Herrn dort das Cola bitte immer mit einem doppelten Cognac drin«, sagte sie, »aber kassieren Sie nur ein einfaches Cola. Bitte.«
Der
Weitere Kostenlose Bücher