Und da kam Frau Kugelmann
herum, die Telegrafie, das Radio, das Telefon und die vielen unbekannten Maschinen, und beschlossen, Bluma ein wenig mehr Bildung mitzugeben, als sich für fromme Mädchen ziemt. So schickten die Eltern Bluma auf eine polnische Schule, ein Mädchengymnasium. Sie glaubten, sie sei dort vor männlichen Gefahren geschützt, die draußen vor der Tür auf fromme Mädchen lauerten. Und was die christliche Religion anbetraf, die in der Schule gelehrt wurde, das alte braune Holzstück mit dem Jesus an der Wand, da waren sich die Eltern einig, die konnte ihrer Tochter nichts anhaben.
Nach dem Wunsch der Eltern sollte Bluma eine Fromme bleiben, mit dem Körper gesittet zu Hause, nur der Kopf sollte ein wenig höher hinaus, ein wenig mehr sehen, aber nicht allzu viel und nicht allzu weit. Aber wie das mit dem Kopf so ist, nicht jeder fügt sich den Wünschen der Eltern.
Bluma war eine fleißige Schülerin. Sie hörte aufmerksam zu, was die anderen polnischen Mädchen auf dem Schulhof so erzählten, und langsam regte sich etwas in ihrem Kopf, sie nannte es eine Lust auf das Leben. Zuerst fing die Lust bei den Aufsätzen an, die Lust zu schreiben, was einem in den Sinn kam, und es auszuprobieren im Reden, und dann, als sei Bluma aus einem tiefen Schlaf erwacht, veränderte sich ihr Blick auf das gesetzestreue Leben. Ein wenig später bekamen die dunklen Haare vorne an der Stirn eine kleine unauffällige Locke, mit Seife in der Pause gedreht, die verschwand anfangs noch auf dem Nachhauseweg, dann wurden die Schürzenzipfel enger gebunden und die Ärmel der Bluse im Sommer, aber nur wegen der großen Hitze, ein wenig höher geschoben, um dann im Winter auch aufgerollt zu bleiben. Und so schritt die Lebenslust immer kräftiger voran, und der Kopf war voller neuer Gedanken und hatte mit dem biegsamen Körper ein leichtes Spiel. Bluma wurde so gründlich verdorben, dass sie nicht mehr zurückwollte in die wohlige Enge der Religion. Das Abitur hat Bluma noch bestanden, aber vor dem Studium haben die geläuterten Eltern sie rechtzeitig bewahrt. Was sollte aus ihr werden, wenn sie noch freier würde, und vor allem welcher junge Mann würde sie wählen, wenn sie bald nicht mehr zu bändigen wäre.
Mit einem frommen Sohn wie Pinje, Gonnas Vater, hatte man keine großen Sorgen. Für die Knaben, Hüter der Tradition, gab es eine strenge, jahrhundertelang erprobte Ordnung. Erst gingen die Zwillingsbrüder Pinje und Mendel in den kindlichen Cheder und dann in die gelehrte Jeschive. Da waren Kopf und Körper sich einig. Die Körper der gläubigen Männer blieben unter sich und der Geist übte sich am Text der großen Meister.
Pinje und sein Zwillingsbruder Mendel, wegen dem dunklen Muttermal auf der rechten Wange ›Mendel mit dem schwarzen Fleck‹ genannt, waren eifrige Schüler. Pinje hätte bis zum seligen Ende den heiligen Schriften sein Leben gewidmet, hätte ihm die Liebe nicht so übel mitgespielt. Jedes Mal, wenn die Brüder das Lehrhaus verließen, schaute Pinje in das Haus gegenüber, aber nur in ein einziges, ganz bestimmtes, im Parterre gelegenes großflächiges Fenster. Maite stand am Fenster und schaute ihn mit grünen Augen an. Das Grün, eingefasst in einen glänzenden dunklen Kranz, wunderschön anzusehen, der Hals schmal, das Gesicht länglich und zart. Sie blieb einen Augenblick länger am Fenster, und dieser winzige Moment der Seligkeit genügte Pinje für den Gedanken an die Ewigkeit.
Pinje verspürte den unendlich großen Wunsch, Maite nicht nur für einen kurzen Moment anzusehen, sondern immerzu und jederzeit. Seine Eltern waren von seiner Wahl äußerst beglückt, nur die Eltern der Braut überzeugte die Gelehrsamkeit des zukünftigen Schwiegersohnes nicht. Er hatte zu wenig aus der Quelle der alten Weisheiten geschöpft, zu wenig studiert für ihre überaus schöne Tochter. Maite wartete jeden Tag am Fenster auf ihn, mit ihren runden goldgrünen Augen, und hielt ihn auf diese Weise hin, bis sie mit einem frommen Gelehrten aus Katowice verheiratet wurde, der ihren Eltern weitaus besser gefiel als Gonnas Vater.
Als Pinje einen Tag nach der Hochzeit aus der Jeschive kam, wollte Mendel mit dem schwarzen Fleck den Bruder schnell fortziehen, doch Pinje riss sich los, blieb stehen und schaute ein letztes Mal zu dem Fenster hoch, in der Hoffnung, die Schöne noch einmal zu sehen. Oder es sollte zumindest ein Schatten von ihr am Fenster zu sehen sein oder wenigstens ein kleines Zeichen, eine Blume, ein Stöckchen
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