Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minka Pradelski
Vom Netzwerk:
Druckmaschine, gab das schnäuzende Geräusch des Bleistiftspitzers wieder. Kreuz und quer floss die Geschichte der Menschheit durch meinen Kopf, ich kannte Könige, Kardinäle, Kriege und Siege. Bei Abendgesellschaften bei uns zu Hause saß ich auf dem Sofa, erhöht auf einem seidenen Kissen, und unterhielt zur Freude meiner Eltern die Gäste mit meinem unerschöpflichen Wissen. Man brachte ein Wunderkind aus Straßburg zu mir, eine hochbegabte zehnjährige Studentin. In drei Sätzen schlug ich sie, komplimentierte sie mit endlosen Zitaten aus einem jüngst erschienenen Kinderlexikon zur Tür hinaus. Sie verlor ihren Ruhm, verließ die Universität und erhielt eine Ausbildung und wurde Lehrling in einem Obstgeschäft.
    Auch Mutter sprach nicht mit mir. Ich las ihr die Wünsche von den Augen ab. Eine unmerkliche Bewegung war für mich eine Anleitung für die nächsten vierundzwanzig Stunden, ein Blinzeln eine Strafpredigt, aus der Länge ihres Augenaufschlags saugte ich Liebe für einen ganzen Tag.
    Ich kann mich noch genau an ihre letzten an mich gerichteten Worte erinnern. »Vergiss die beiden Zimmer«, sagte sie. Dann verstummte sie.
    Nur ein einziges Mal, sie lag mit hohem Fieber im Bett und glaubte, sterben zu müssen, erzählte sie mir von den beiden Zimmern, in denen sie ihre Kindheit verbrachte. Als sie wieder zu Kräften kam, wollte sie alles vergessen, was sie je gesagt hatte.
    »Ich kann nicht vergessen, wenn ich weiß, dass du daran denkst. Du musst das Gehörte in dir auslöschen«, sagte sie zu mir.
    Ich wollte die beiden kostbaren Zimmer meiner Mutter nicht aufgeben. Nur in den zwei Zimmern fühlte ich einen Hauch von Freiheit. Ich schlug Purzelbäume in ihnen, von einer Ecke zur anderen, stampfte mit den Füßen auf, zündete im Ofen altes Papier an, bis das Feuer im Ofen loderte, backte goldbraune Brote für unsere einst so große, vielköpfige Familie.
    Über die zwei Zimmer hinaus kam ich nicht. Schon die Stiegen, die von dem winzigen Häuschen zur Straße führten, waren für mich so unerreichbar fern wie ein galaktischer Mond oder ein Stern in der unendlichen Weite des Firmaments. Mutter hatte in der Fiebernacht nicht von ihnen erzählt.
    »Ich komme nicht davon los«, sagte ich.
    »Tue es für mich«, bat sie, »du verkürzt mir sonst das Leben.«
    Dann schwieg Mutter. Erst stundenlang, dann ganze Tage. In meinem Körper tobte ein mörderischer Krieg, ich stieß die Bilder fort, sie kamen zurück, breiteten sich aus in meinem Kopf wie eine verrückte verbotene Liebe. Die beiden Zimmer saßen in meinen Poren, robbten sich vor bis in die letzten Windungen meines Hirns. Ich kämpfte gegen sie an, schlug mir auf die Ohren, auf die Wangen, auf die Stirn. Auf mir lastete ein Fluch. Nie würde es mir gelingen, Mutter von ihrer tiefen Schweigsamkeit zu erlösen. Mutter sprach zu Recht nicht mehr mit mir. Ich war hässlich und böse.
    Einzig unser Dienstmädchen Erika mit dem blonden schütteren Haar war redselig. Abends, wenn sie mich zu Bett brachte, erzählte sie mir, wie sie ihre schönen blonden Haare kurz nach Kriegsende auf ihrem schlesischen Bauernhof verloren hatte. Nach dem Sieg der Roten Armee drangen die Soldaten in die Küche ihres Bauernhauses ein, warfen ihre Mutter Lore auf den Tisch. Sie vergewaltigten sie vor den Augen der zehnjährigen Tochter. Als die Soldaten verschwunden waren, holte Erika eine Porzellanschüssel und hielt sie der blutenden Mutter zwischen die Beine. Ein paar Wochen darauf fielen Erika an mehreren kreisrunden Stellen die Haare aus.
    Nachdem Lore und ihrer Tochter die Flucht in den Westen gelungen war, liebte Erika mit den ausgedünnten Haaren nur noch Amerikaner. Sie gebar zwei Kinder von amerikanischen Soldaten, die sie bei Pflegeeltern unterbrachte, um in unserem Haushalt Geld zu verdienen. Erika liebte freizügig und ohne Scham. Wenn meine Eltern verreist waren, empfing sie ihre Amerikaner im durchsichtigen Perlonnachthemd meiner Mutter und verschwand mit ihnen im Elternschlafzimmer. Nach getaner Arbeit teilte sie mit mir ihre Geschenke. Billigen Schmuck, Parfüm und likörgefüllte Pralinen. Nur die Dollarnoten behielt Erika für sich, rollte sie zusammen und versteckte sie schnell unter dem Teppich.
    Sonntags, wenn sie ihre amerikanischen Kinder in die Rhön zu ihrer Mutter brachte, durfte ich das eine oder andere Mal mitfahren. Lore war eine Imkerin aus Leidenschaft. Sie war furchterregend anzusehen mit dem Drahtzaun um den Kopf und dem ledernen,

Weitere Kostenlose Bücher