Und da kam Frau Kugelmann
ellenbogenlangen Armschutz. Groß gewachsen, kerzengerade, ohne Flecken und Falten, als habe das Alter sie nicht berührt, herrschte sie über Drohnen und Arbeiterinnen. Sie war die wahre Königin. Sie sammelte Honig, ohne ihn zu verkaufen, trank Honigwein aus einem silbernen Becher, jagte die Käufer, die ihr Haus umlagerten, mit einem Stock auf die Straße. Den gewonnenen Honig bewahrte sie in kleinen Eichenfässern auf, die im ganzen Haus herumstanden und einen so betörend süßen Duft verbreiteten, dass jeder, der am Haus vorbeiging, wie auf magische Weise angezogen, am Gartentor verharrte.
Nur sonntags duldete Lore ihre Enkelkinder. Sie striegelte ihnen das drahtige Haar, buk Pfannkuchen und kochte alle Gerichte mit Honig. Ich bewunderte sie und wollte unbedingt zur sonntäglichen Familie gehören. Ich war bereit, sonntags Erikas Kreuz an meinem Hals zu tragen, nur um der Großmutter Lore zu gefallen. Denn einmal belauschte ich sie:
»Schämst du dich nicht, bei einer Judenfamilie zu arbeiten?«, fragte die Imkerin ihre Tochter.
»Kümmere dich um deine Waben«, antwortete Erika.
»Du kündigst«, fuhr die Mutter unbeirrt fort, »aber bevor du gehst, führst du das arme Judenkind noch dem rechten Glauben zu.«
»Sie bleibt bei ihrem Glauben. Ich gehe mit ihr noch nicht einmal in die Nähe einer Kirche. Ein Russe bleibt ein Russe und ein Amerikaner ein Amerikaner«, sagte Erika und drehte sich auf dem Absatz um. Damit war das Gespräch für sie beendet.
Wenn meine Eltern außer Haus waren, spielten Erika und ich Krieg. In Windeseile galt es, im Keller ein Zeltlager aufzubauen aus Matratzen, Bettdecken, Thermosflaschen, die wir dort für den Fall eines dritten Weltkriegs vor meinen Eltern versteckten. Erika malte mich mit Kohlenstaub an. Sie zeichnete Falten, Pusteln und Schrunden in mein Gesicht. Meine Haare wurden mit Staub und Asche eingepudert. Ich erlernte Vogelstimmen, zischte wie eine Katze, sabberte und spuckte, musste mich mit faulen Zwiebeln einreiben, damit die Russen mich beim nächsten Siegesrausch für eine uralte, stinkende Hexe hielten.
Erika war mein dritter Elternteil. Von ihr lernte ich, wie man jenseits des Zauns, der mich umgab, in den zerbombten deutschen Städten den Krieg überlebte. Salz und Paprika, erklärte sie mir, seien langlebige Lebensmittel und in der Küche immer vorrätig. Man könne sehr sparsam mit ihnen umgehen und in Kriegszeiten als Brotbelag davon zehren. Ich aß tagelang zur eigenen Prüfung Butterbrote mit Paprika und Salz und klammerte mich daran, dass ich alle kommenden Kriege überleben würde. Überall ließ ich Salzfässchen mitgehen und versteckte Paprikatüten unter meinem Bett. So habe ich als Training für mein Überleben endlose Mengen an Paprika und Salz ohne Brot verschlungen, gewöhnte mir auf diesem Weg rasch das warme Essen ab. Und dann kam meine Leidenschaft für eisgekühlte Speisen, ich verlor an Gewicht, verweigerte zum Entsetzen meiner Eltern gemeinsame Mahlzeiten am Tisch und aß nur noch für mich alleine an meinem alten zerkratzten Kindertisch.
Erika schimpfte kaum und strafte nie. Ich hielt mich an ihre Verbote. Wenn ich einmal über die Stränge schlug, wies sie mich sanft zurecht. Auf sie war Verlass. Beim Bohnenschneiden sang sie sentimentale Lieder über eine unglückliche gräfliche Liebe; ich summte mit und weinte aus Rührung mit ihr. Meine Eltern habe ich nie weinen sehen. Vater war in meinen Augen ein Fremder, ein altersloser Erwachsener. Erika dagegen war greifbar für mich. Ich durfte ihre rotschimmernde Haut berühren, meine Hand auf ihr pochendes Herz legen, fühlen, wie es schlägt. Ich stellte mir vor, wie sie als Neugeborenes an der Nabelschnur ihrer Mutter hing, aus dem mütterlichen Bauch herausgezogen wurde, wie die Imkerin stundenlang unter beißenden Schmerzen in den Wehen lag, beim Pressen die Männer verfluchte und im Wahn an das unschuldige Summen ihrer fleißigen Bienen dachte. Ich sah Erika, wie sie als unbeholfener Säugling in den schützenden Armen ihrer Mutter lag, sich ein Jahr später an der festen Hand der Mutter aufrichtete und die ersten tapsigen Schritte lief. Ich habe nie an Vaters Geburt gedacht, geschweige denn, mir ein Bild von ihm als Kleinkind gemacht. Unsere Wohnung war bar jeglicher Erinnerung. Es gab keine vergilbten alten Fotografien mit Kleinkindern im gehäkelten Strampelanzug oder altertümlich gekleideten Personen in steifer Sitzhaltung, die Rückseite handschriftlich mit einem Datum
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