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Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minka Pradelski
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versehen. Sämtliche Gegenstände, die auf ein früheres Leben deuten könnten, waren spurlos verschwunden, so als hätten sie nie existiert. Ich habe sogar eine Zeit lang geglaubt, Vater habe gar keine Kindheit gehabt und sei als Erwachsener zur Welt gekommen, fix und fertig angezogen mit Krawatte, Sakko, Hose und Hemd. Erst seitdem ich Frau Kugelmann begegnet bin, gewöhne ich mich an den Gedanken, dass Vater auch einmal ein Kind war. Dass es einst eine Frau gab, die ihn nachts, wenn er schrie, aus dem Körbchen nahm und ihn so lange in den Armen wiegte, bis er beruhigt wieder einschlief.
    Warum schwieg er nur? Was habe ich verbrochen, das Vater mich so strafte? Vater hielt mich von seiner Familie fern, als sei ich ein Nichtsnutz, noch nicht einmal würdig, die geheiligten Namen seiner Verwandten zu erfahren. In welchem Haus er wohnte, wo er zur Schule ging, was er aß oder wo er schlief, ein gutes Viertel seines Lebens verbarg er vor mir. Hätte Vater doch nur über seine Erinnerungen gesprochen, dann wäre Kalisz für mich durch seine Worte zu einer majestätischen Stadt emporgeschossen, eine Heimstatt mit kilometerlangen Hauptstraßen und einem Fluss so breit wie ein See, weitaus schöner und eleganter als Frau Kugelmanns Bendzin. Gewiss gab es in Vaters Stadt ein örtliches elitäres Gymnasium, vielleicht sogar gespendet von einem reichen Mäzen, ähnlich dem Fürstenberg, mit einer nervösen Polnischlehrerin und faulen, reichen Schülern. Und vielleicht war Vater sogar einer der Schüler, ein kleiner Adam aus Kalisz, ein kleiner Abenteurer, ein Liebling der Lehrer. Oder war er wie Kotek? Ein kleiner Angeber, der die Mädchen aus seiner Klasse vergeblich umwarb? Warum verwandelte er sich, als ich das erste Mal aus der Schule kam? Ich mochte seine neuen Züge nicht, ängstigte mich vor ihnen. Ähnelte Vater dem schuldbeladenen Gonna, der sich nach dem Krieg so sehr verändert hatte? Verstummte Vater wegen seiner Schuld? Was mochte das für eine schreckliche Schuld gewesen sein?
    »Lassen Sie uns noch einmal über den schlauen Gonna reden«, flehe ich Frau Kugelmann an, als sie am nächsten Morgen auf ihrem Sessel Platz nimmt.
    »Gonna ist nicht so wichtig«, sagt Frau Kugelmann entschieden, »er war einer unter vielen, mir geht es um Bendzin.«
    »Dann erzählen Sie bitte etwas über Gonnas Familie, es interessiert mich.«
    »Sie wissen ja gar nicht, was Sie da reden. Wollen Sie ernsthaft etwas über fromme Mädchen hören, die in Bendzin verdorben wurden?«, sagt sie spöttisch zu mir.
    »Was haben verdorbene Mädchen mit dem Schüler Gonna zu tun? Oder gab es etwa fromme Mädchen in Bendzin, die Ihre Schulkameraden verführten?«
    »Was erlauben Sie sich?«, sagt sie nun hell empört.
    »Was war denn so verdorben an den Mädchen?«, frage ich unverfroren, innerlich halb triumphierend, denn sie lehnt sich bereits in ihrem Sessel zurück.
    »Das werden Sie gleich sehen«, sagt sie und reibt sich nachdenklich die Hände.

Wie fromme Mädchen bei uns verdorben wurden
    »Man sah es Gonna nicht an, dass er eine verdorbene Mutter hatte, er war sogar stolz auf sie, denn er hielt sie für eine aufgeklärte, fortschrittliche Frau.
    Bluma, so hieß Gonnas Mutter, war die älteste Tochter von Elisier Silberberg. Er war ein gesetzestreuer frommer Kaufmann, der in jungen Jahren von Kalisz nach Bendzin gekommen war, um das Geschäft seines verstorbenen Onkels zu übernehmen.
    Sein Geschäft hielt Elisier Silberberg am Schabbes geschlossen, aber nur nach vorne, zur Straße hin. Die hintere Türe blieb notgedrungen für den Verkauf weit geöffnet. Großvater Elisier konnte wegen seiner stets hungrigen Familie nicht zulassen, dass die Arbeiter von der Fabrik nebenan, die wöchentlich ihren Lohn erhielten, das Geld für den Schnaps zu einem anderen Laden trugen.
    Mit der Religion war das so eine Sache, jeder hat sie für sich zurechtgebogen. Meine Großeltern waren noch fromm, während Vater schon ein Verdorbener war, ein aufgeklärter Chemiker, der noch nicht einmal das Kerzenanzünden am Freitagabend in seinem Hause duldete, so sehr hatte er sich von seinen Eltern entfernt. Und der Leiter von Vaters Fabrik, ein Verdorbener namens Rosenblatt, war sogar ein getaufter Jude und schämte sich nicht. Aber dass die fromme Bluma sich in ein verdorbenes Mädchen verwandelte, daran waren ihre frommen Eltern beteiligt. Denn das war so: Als Bluma heranwuchs, riskierten die Eltern einen kleinen Blick auf die großen Änderungen um sie

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