Und da kam Frau Kugelmann
Sie einsetzen. Es wäre gut, wenn ich an Ihrer Seite bin.«
Sie richtet sich auf, ihre kugelrunden Augen blitzen angriffslustig, als kehre ihre alte Kraft zurück.
»Versuch nicht, mir nachzueifern«, sagt sie hart.
»Aber wir müssten nicht in einem Hotel tätig sein. Gemeinsam könnten wir Ihre Arbeit verdoppeln, was sage ich, verstärken, vervielfachen!«, sage ich und erschrecke über meine eigenen Worte.
»Überlasse uns das Erzählen, solange es noch einen einzigen Überlebenden gibt«, sagt sie und verliert für einen Augenblick alles Freundliche und Rundliche in ihrem Gesicht.
»Und wenn der letzte Bendziner nicht mehr lebt?«, frage ich vorsichtig.
»Noch gibt es uns«, antwortet sie mit ungewohnter Schärfe.
»Aber du kannst auch nach meinem Tod meine Arbeit nicht übernehmen, du musst Bendzin mit eigenen Augen gesehen haben.«
»Ich bin Ihre Ohrenzeugin.«
»Das genügt nicht. Ich würde Bendzin aus deinen Erzählungen nicht wiedererkennen.«
»Aber es sind Ihre Worte, die ich wiederhole, Ihre Sätze, Ihre Erlebnisse. Ich eigne mir Ihre Sicht an.«
»Ich sagte dir schon, du musst es selbst erlebt haben.«
»Und wenn ich Ihr Vermächtnis nicht weitertrage, sterben mit Ihnen alle Toten.«
»Vielleicht ist nach mir alles dem Vergessen preisgegeben«, sagt sie niedergeschlagen.
»Das dürfen Sie nicht sagen. Sie müssen an eine Zukunft glauben. Erkennen Sie mich als Ihre Nachfolgerin an, bilden Sie mich als Erzählerin aus, prüfen Sie mich mit aller Strenge!«
»Ich sagte dir schon, lass endlich die Finger davon!«
»Vertrauen Sie mir«, bitte ich sie. »Keine Geschichte bleibt sich gleich. Wenn Sie hier und heute von neuem über die Stadt erzählen, werden Sie einen anderen Blickwinkel auswählen.«
»Das ändert nichts. Von welchem Standpunkt wir, die Überlebenden, auf Bendzin blicken, ist gleichgültig. Einzig und alleine wir, die Zeitzeugen, sind glaubwürdig. Wir sprechen die Wahrheit. Unsere Erinnerung ist unerschütterlich.«
Zornig steht sie vom Sofa auf, schaut mich an, als sei alles gesagt, und geht schleppend, gestützt auf den Regenschirm, zur Drehtür hinaus.
Ich stehe da, zurückgewiesen, verlassen, beschämt. Oben in meinem Zimmer packe ich in Windeseile meinen Koffer, rufe Koby an, flüchte unter Tränen. Erst in Kobys Taxi beruhige ich mich. Er telefoniert, bestellt in einem anderen Hotel ein Zimmer für mich, trägt den Koffer hinein, handelt den Preis am Empfang für mich aus. Der Portier überreicht mir lächelnd das Anmeldeformular, wirft einen taxierenden Blick auf meine Kleidung und bietet mir höflich einen Platz zum Abendessen im Restaurant an. Erfreut willige ich ein. Heute Abend will ich nicht an Frau Kugelmann denken. Ich werde zum ersten Mal im Restaurant gemeinsam mit allen anderen Gästen speisen. Im Geiste stelle ich schon ein erlesenes Menü zusammen, dass mich vor den Augen der arroganten Kellner als verwöhnte Feinschmeckerin ausweisen wird.
Als ich das geräumige, komfortabel möblierte Zimmer betrete, fällt mein Blick sofort auf den Hotelkühlschrank. Ob ich den Eiswürfelbehälter vorsichtshalber entferne? Die Kälte, die aus dem geöffneten Kühlschrank strömt, reizt mich nicht. Gelangweilt schließe ich mit einem gezielten Fußtritt die kleine Tür. Schalte den Fernseher ein, sehe mir um eine Stunde zeitversetzt deutsche Nachrichten an, studiere das Angebot an Tagesreisen ans Tote Meer, das auf dem Schreibtisch ausliegt, entdecke in der geöffneten Schublade des Nachttisches einen kleinen Schalter, den man nach Lust und Laune betätigen kann. Per Knopfdruck lässt sich spielerisch vom Bett aus das Zimmer verriegeln, das Licht löschen und über ein rotes Außenlämpchen dem Zimmermädchen signalisieren, dass der Gast nicht gestört zu werden wünscht. Falls ich länger im Land bliebe, ließen sich meine Geschäfte in Frankfurt bequem von diesem abgeschirmten Zimmer aus betreiben. Eine ganze Weile werde ich sorglos von meinen Ersparnissen leben können, bevor ich umsichtiger haushalten muss. Am nächsten Morgen stelle ich zu meinem Erstaunen fest, dass ich versäumt habe, einen Blick auf den Fluchtplan des Hotels zu werfen. Er hängt gut sichtbar hinter einem Glaskasten an der Wand. Unkonzentriert schweifen meine Augen über die rot eingezeichneten Linien des fotokopierten Papiers, bis sie verschwinden, so als beträfen sie mich nicht.
Morgens beim Aufstehen horche ich auf jeden Laut, in der Hoffnung, Frau Kugelmann würde von neuem an meine
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