... und dann bist du tot
dass Chris sie ebenso anziehend fand wie sie ihn und er vielleicht auch schuldbewusst die Momente gezählt hatte, bis sie sich Wiedersehen würden. Als er nun an diesem Morgen über ihre Schwelle trat, sah sie in sein Gesicht und erkannte, dass sich ihre eigenen verworrenen Gefühle in seinen Augen spiegelten, ohne dass er sie zu verbergen versuchte.
Aber das Kind stand zwischen ihnen und hinderte sie daran, ihre Gedanken auszusprechen, ihre Arme auszustrecken und die Hand oder die Wange des anderen zu berühren. Und auch Andrea Webber stand zwischen ihnen, obwohl sie meilenweit entfernt in einer Klinik eingeschlossen war, aber vielleicht war gerade das der Grund. Möglicherweise dämpften ihre Gewissensbisse ihre Stimmen, und
wahrscheinlich hatten sie nicht das Recht, auch nur an ihre eigenen Gefühle zu denken.
»Wann werden Sie wieder Unterricht geben?«, wollte Katy wissen.
»Das wird noch eine Weile dauern.«
»Sie sind aber bald wieder gesund?«
Das Mädchen schaute Lally mit seinen dunkelblauen Augen ängstlich an. Es waren die Augen ihres Vaters, und Lally wusste, dass sie niemals mehr in der Lage sein würde, sie anzuschauen, ohne an ihn zu denken.
»Ganz bestimmt, Liebling«, sagte Chris.
»Ja.« Lally lächelte ihn an. »Natürlich.«
Sie sprachen über Gott und die Welt, nur nicht über sich. Über das Ballett, über die Schneeverhältnisse auf den Skihängen in Bousquet, über einen Eiszapfen, der wie ein Speer über einem Lebensmittelladen in der Elm Street aus dem Türsturz herausragte und Katys Kopf vor zwei Tagen nur knapp verfehlt hatte. Über Jade und die anderen Hunde in dem großen Haus ein paar Meilen die Straße hinunter und dass Katy ihrer Mutter versprochen hatte mitzuhelfen, sich um sie zu kümmern, so lange sie fort war. Schließlich erwähnte Chris die bevorstehende Veröffentlichung seines neuen autodidaktischen Werks für Maler. Sie sprachen über alles, was ihnen einfiel, außer über Andrea Webbers Alkoholismus oder Katys blaue Flecke oder die Tatsache, dass Chris und Lally sich schuldig fühlten, weil sie sich ineinander verliebt hatten, und dass sie beide wussten, dass es keine Zukunft und keine Hoffnung gab.
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, ging Lally in die Küche und versuchte, ein Souffle zu machen, das im Backofen jämmerlich in sich zusammenfiel. Dann legte sie eine Kassette vom Schwanensee auf, aber sie hatte Angst, zu tanzen oder auch nur ein paar Schritte zu machen. Und es schneite wieder, und plötzlich hasste sie diese ganze weiße Landschaft und die gedämpften Geräusche und den grauen Himmel. Sie fühlte sich eingeschlossen und hatte Platzangst und war schrecklich deprimiert. So einsam hatte sie sich seit Jahren nicht gefühlt.
Hugo kam an diesem Nachmittag um kurz nach vier nach Hause und sah Lally zusammengerollt unter ihrer Patchwork-Steppdecke liegen. Nijinskij schlief an ihrer Seite. Lallys Augen waren geschlossen, aber Hugo war sich nicht ganz sicher, ob sie wirklich schlief. Auf ihren Wangen waren Tränenspuren, und ein frischer Strauß Gartenwicken stand in einer kleinen Vase neben Webbers Bild auf ihrem Schrank. Hugo wusste sofort, wer Lally besucht hatte und an diesen Tränen schuld war.
Und Hugo, der selten Alkohol und niemals so früh am Tage Schnaps trank, ging leise die Treppe hinunter und goss sich ein Glas Whisky ein. Er stand am Fenster im Wohnzimmer, nippte an seinem Glas und starrte hinaus durch den Schleier auf die weiße Schneedecke, die auf der Lenox Road, auf West Stockbridge und dem größten Teil der Berkshires lag. Der Whisky schmeckte bitter, aber kaum bitterer als seine Eifersucht.
Chris Webber hatte Lally zum Weinen gebracht, und Hugo hasste ihn dafür. Gleichzeitig verachtete er seine Heuchelei, denn eigentlich hätte Chris Webber ihm dann sympathischer sein müssen, wenn Webber Lally glücklich machen würde.
Natürlich war das von der Wahrheit meilenweit entfernt.
16. Kapitel
Sonntag, 17. Januar
A m Sonntagmorgen schien zum ersten Mal seit fast einer Woche in Chicago die Sonne. Es war bitterkalt, der Wind fegte über den See, auf den Bürgersteigen lag eine vereiste Schneedecke, und auf den Bordsteinen türmte sich der Schnee. Der blaue Himmel war wolkenlos, und die Sonne verlieh der Stadt einen so hübschen Glanz, dass Joe sich so gut fühlte wie schon lange nicht mehr. Seine Stimmung wurde seit jeher vom Wetter beeinflusst und manchmal sogar beherrscht. An solchen Tagen klappte alles besser, und das war in
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